russische Polizeibeamte bei der Festnahme von Protestierenden in Moskau
APA/AFP/Olga Maltseva
Teilmobilmachung

Krieg rückt in Russland neu ins Bewusstsein

Russlands Präsident Wladimir Putin hat am Mittwoch die erste Mobilmachung im Land seit dem Zweiten Weltkrieg angeordnet. Offiziell wird die Mobilisierung vorerst als Teilmobilisierung bezeichnet, bei der 300.000 Reservisten nach und nach eingezogen werden sollen. In Russland rückt damit der Angriffskrieg neu ins Bewusstsein der Menschen: Während die Nachfrage nach Flügen ins Ausland enorm stieg, wurde in vielen Städten protestiert.

Bei den Demonstrationen gegen die Teilmobilmachung sind nach Angaben von Aktivistinnen und Aktivisten landesweit mehr als 1.300 Menschen festgenommen worden. Es habe spontane Proteste in mindestens 38 Städten gegeben, hieß es von der Organisation OVD-Info, die Festnahmen in Russland dokumentiert. Es sind die größten Proteste in Russland seit den Demos, die es Ende Februar nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine gegeben hat.

Journalisten der Nachrichtenagentur AFP beobachteten am Abend Dutzende Festnahmen in der Hauptstadt Moskau und in der zweitgrößten Stadt St. Petersburg. Im Stadtzentrum von Moskau wurden etliche Menschen auf einer Einkaufsstraße festgenommen, wie AFP-Reporter beobachteten. Im Stadtzentrum von St. Petersburg füllte die Polizei einen ganzen Bus mit Festgenommenen.

russische Polizeibeamte bei der Festnahme von Protestierenden in Moskau
Reuters/Reuters Photographer
Russische Polizeibeamte bei der Festnahme von Protestierenden in Moskau

Enorme Nachfrage nach Flügen

Bereits vor Aufkommen der ersten Straßenproteste löste die Teilmobilmachung einen Run auf Flüge ins Ausland aus. Laut der in Russland beliebten Buchungsseite Aviasales waren alle Direktflüge in die Türkei und in die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan ausgebucht. Diese Länder erlauben Russen eine visafreie Einreise. Fachleute deuten das als Zeichen dafür, dass sich viele einer möglichen Einberufung entziehen wollen.

Die starke Nachfrage nach den Flugtickets trieb die Preise in die Höhe. Die billigsten Flüge nach Dubai kosteten mehr als 300.000 Rubel (rund 5.000 Euro). Das entspricht etwa dem Fünffachen eines durchschnittlichen Monatslohns. Flüge in die Türkei verteuerten sich auf fast 70.000 Rubel – nur für den Hinflug. Vor einer Woche wurden nur etwas mehr als 22.000 Rubel verlangt, wie Daten von Google Flights zeigen.

Ersten Männern die Ausreise verweigert?

Die russische Regierung äußerte sich bisher nicht konkret dazu, ob die Grenzen für die von der Einberufung Betroffenen geschlossen werden. Doch gibt es erste Berichte, wonach der russische Grenzschutz Männern, die von der Teilmobilmachung betroffen sind, die Ausreise verweigert. Von offizieller Seite wurde dazu aber nichts kommuniziert. Die russische Tourismusbehörde hatte im Laufe des Tages mitgeteilt, dass bisher keine Einschränkungen für Reisen ins Ausland verhängt worden seien.

ORF-Bericht zu Teilmobilmachung

ORF-Korrespondent Paul Krisai berichtet unter anderem darüber, wie der Krieg für Russland verläuft, sowie über die Teilmobilmachung der Streitkräfte.

Bis zu zehn Jahre Haft für Wehrdienstverweigerer

Russen im wehrpflichtigen Alter müssen sich laut aktuellem Gesetz „Über die Mobilmachung in Russland“ fortan an ihrem Wohnort aufhalten – die Reisefreiheit wird eingeschränkt. Nach dem Befehl zur Teilmobilmachung müssen sie künftig mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen, wenn sie die Teilnahme an Kampfhandlungen verweigern. Eine entsprechende Gesetzesänderung hat der Föderationsrat in Moskau verabschiedet.

Polizisten und Demonstranten in St. Petersburg
APA/AFP/Olga Maltseva
Polizisten und Protestierende stehen in St. Petersburg einander gegenüber

Bereits zu Wochenbeginn stimmte die erste Kammer des Parlaments, die Duma, im Eilverfahren der Novelle zu. Nun muss sie noch von Putin unterschrieben werden. Die Änderungen des Strafrechts sehen vor, dass Befehlsverweigerung künftig ebenfalls mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden kann. Zudem sind die Haftstrafen für das freiwillige Eintreten in Kriegsgefangenschaft und für Plünderungen erhöht worden.

Russland-Experte zur Teilmobilmachung

Russland-Experte Gerhard Mangott, Professor für internationale Beziehungen an der Uni Innbruck, erläutert, wie die Teilmobilmachung und die Rede Putins einzuschätzen sind.

„Demografischer Niedergang“

Unterdessen droht die Teilmobilmachung der Ratingagentur Scope zufolge die russische Wirtschaft weiter zu lähmen. Sie münde wahrscheinlich in die „anhaltende Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus Russland aufgrund des Krieges“, sagte Scope-Analyst Levon Kameryan der Nachrichtenagentur Reuters.

„Die Abwanderung hat den demografischen Niedergang des Landes bereits verschlimmert, was das Wachstum der russischen Wirtschaftsleistung und Produktivität längerfristig einschränkt.“ Schätzungen zufolge haben seit Kriegsbeginn im Februar bereits Hunderttausende Russen ihre Heimat verlassen.