der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hält eine Rede während der 77. UNO Vollversammlung
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UNO-Generaldebatte

Selenskyj fordert Russland-Sondertribunal

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat wegen des russischen Angriffskriegs gegen sein Land die Einrichtung eines Sondertribunals gefordert. „Gegen die Ukraine wurde ein Verbrechen begangen, und wir verlangen gerechte Bestrafung“, sagte Selenskyj in einer am Mittwoch vor der UNO-Generalversammlung ausgestrahlten Videoansprache.

Neben der Einrichtung eines Sondertribunals verlangte der Präsident unter anderem einen Entschädigungsfonds für die Ukraine und einen Entzug von Russlands Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat. Russland habe sich unter anderem des „Verbrechens der Aggression“ und der „Ermordung“ Tausender Menschen verantwortlich gemacht, sagte Selenskyj weiter.

Selenskyj: Kreml nicht ernsthaft an Gesprächen interessiert

Nach seiner Einschätzung sei Russland nicht ernsthaft an Friedensgesprächen interessiert. „Sie reden über die Gespräche, aber sie kündigen eine militärische Mobilisierung an. Sie reden über die Gespräche, aber sie kündigen Scheinreferenden an“, sagte Selenskyj. „Russland will Krieg.“ Auch warnte er angesichts der Lage am umkämpften ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja vor einer internationalen Nuklearkatastrophe.

„Das russische Vorgehen in Saporischschja macht Sie alle zu einem Ziel“, sagte Selenskyj. Die „russische Strahlenerpressung ist etwas, das jeden Einzelnen von Ihnen betreffen sollte“, denn niemand werde einen Impfstoff gegen die Strahlenkrankheit haben, ergänzte er in eindringlichen Worten. Das AKW Saporischschja steht seit Anfang März unter russischer Kontrolle. Mit seinen sechs Reaktoren ist es das größte Atomkraftwerk in Europa.

Mehr Militärunterstützung gefordert

Auch forderte Selenskyj mehr militärische Unterstützung für sein Land. Die Ukraine brauche im Krieg gegen Russland mehr Unterstützung sowohl in der Verteidigung als auch im Angriff, so Selenskyj. Auch zusätzliche finanzielle Unterstützung sei nötig. „Wir können die ukrainische Flagge auf unser gesamtes Territorium zurückbringen, wir können das mit Waffen schaffen, aber wir brauchen Zeit.“

Der ukrainische Präsident war der einzige Staatschef bei der diesjährigen UNO-Generaldebatte, der seine Rede per Video halten durfte. Nach der Videoansprache spendeten zahlreiche Zuhörer im Saal der UNO-Vollversammlung stehend Beifall.

Biden: „Schamloser“ Verstoß gegen UNO-Charta

US-Präsident Joe Biden übte davor scharfe Kritik an den jüngsten Handlungen Putins. Er gefährde alles, wofür die Vereinten Nationen stünden. Auch Klimawandel und Hunger seien aktuelle und „drängende“ Krisen. Russland muss nach Ansicht des US-Präsidenten für Kriegsverbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden. Es habe „noch mehr entsetzliche Beweise“ für russische Grausamkeiten und Kriegsverbrechen gegeben, sagte Biden in seiner Rede.

Biden warf Russland angesichts des Krieges gegen die Ukraine einen „schamlosen“ Verstoß gegen die UNO-Charta vor. „Ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist in sein Nachbarland eingedrungen und hat versucht, den souveränen Staat von der Landkarte zu tilgen“, sagte der US-Präsident. Damit habe er gegen die Grundpfeiler der UNO-Charta, das Regelwerk der Vereinten Nationen, verstoßen.

„Das sollte Ihnen das Blut in Adern gefrieren lassen“

Putin habe gerade erst wieder „unverhohlene nukleare Drohungen gegen Europa ausgesprochen“, und der Kreml organisiere Scheinreferenden, so Biden. Es handle sich um „ungeheuerliche Handlungen“. Putin rechtfertige seinen Krieg mit der Behauptung, sein Land sei bedroht gewesen, sagte Biden. „Aber niemand hat Russland bedroht, und niemand außer Russland hat den Konflikt gesucht.“

Der US-Präsident warf Russland vor, das Existenzrecht der Ukraine vernichten zu wollen. „In diesem Krieg geht es schlicht und einfach darum, das Existenzrecht der Ukraine als Staat auszulöschen. Und das Recht der Ukraine, als Volk zu existieren“, sagte Biden. „Wer auch immer Sie sind, wo auch immer Sie leben, was auch immer Sie glauben, das sollte Ihnen das Blut in den Adern gefrieren lassen.“

US-Präsident Joe Biden
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Wegen des Staatsbegräbnisses für Königin Elizabeth II. hatte Biden seine Ansprache um einen Tag verschoben

Auch für eine Reform des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen hat sich Biden ausgesprochen. Das mächtigste UNO-Gremium müsse glaubwürdig und effektiv bleiben, so Biden. Länder aus Afrika, Lateinamerika und der Karibik brauchten ständige Sitze im Sicherheitsrat, sagte Biden. Die Vereinigten Staaten hatten zuletzt mit dem Vorstoß zu einer Reform des 15-köpfigen Sicherheitsrats überrascht. Vor allem Russland und China werden als Gegner der Pläne gesehen.

Klimawandel als „drängendste Krise“

Biden bezeichnete in seiner Rede den Klimawandel als eine drängende Krise. „Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir alle wissen, dass wir bereits in einer Klimakrise leben“, sagte der US-Präsident. „Wir wissen, dass ein großer Teil Pakistans immer noch unter Wasser steht und Hilfe braucht. Am Horn von Afrika herrscht eine noch nie da gewesene Dürre. Familien stehen vor unmöglichen Entscheidungen, müssen sich entscheiden, welches Kind sie ernähren wollen, und fragen sich, ob es überleben wird.“ Das seien die menschlichen Kosten des Klimawandels.

Milliardenhilfe gegen Ernährungskrise

Biden kündigte in seiner Rede zudem weitere Milliardenhilfen an, um die Ernährungskrise auf der Welt abzumildern. Konkret versprach er Hilfen im Umfang von mehr als 2,9 Milliarden US-Dollar (rund 2,9 Mrd. Euro). Nach Angaben des Weißen Hauses ergänzen die neuen Mittel die 6,9 Milliarden US-Dollar, die die US-Regierung im laufenden Jahr bereits zur Unterstützung der weltweiten Ernährungssicherheit bereitgestellt habe.

UNO Vollversammlung in New York City
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Zu dem diplomatischen Spitzentreffen versammeln sich rund 150 Staats- und Regierungschefs im UNO-Hauptquartier

Biden forderte die Verlängerung des von den Vereinten Nationen zwischen Russland und der Ukraine vermittelten Getreideabkommens. Der Ende Juli unterzeichnete Deal gilt für vier Monate. Darin verpflichtet sich Russland dazu, die Ausfuhr von Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer nicht zu blockieren. Putin hatte zuletzt damit gedroht, die bis dato bedeutendste Übereinkunft der Kriegsparteien platzen zu lassen.

Van der Bellen traf Erdogan: „Positive Entwicklung“

Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist unterdessen im Rahmen der UNO-Vollversammlung mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zusammengetroffen. „Die bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei haben sich in diesem Jahr sehr positiv entwickelt“, resümierte Van der Bellen. „Es gilt, diese Dynamik aufrechtzuerhalten. Deshalb war es mir wichtig, im Rahmen meines New-York-Besuchs auch den türkischen Präsidenten zu treffen.“

Bundespräsident Alexander Van der Bellen und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan anlässlich eines Treffens im Rahmen der 77. UNO-Vollversammlung in New York.
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Die Stimmung zwischen Wien und Ankara war längere Zeit frostig gewesen, in den letzten Wochen kam es aber zu mehreren Begegnungen

Er habe Erdogan für seinen Einsatz gedankt, „im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nach Lösungsansätzen zu suchen“, ließ der Bundespräsident wissen. „Die aktuelle Entwicklung ist allerdings sehr ernst zu nehmen. Jetzt geht es umso mehr um internationale Geschlossenheit und Entschlossenheit.“ Die Türkei pflegt sowohl zur Ukraine als auch zu Russland enge Beziehungen und sieht sich als Vermittler zwischen beiden Parteien.

Bundeskanzler Karl Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg (beide ÖVP) überreichten zudem am Mittwochnachmittag (Ortszeit) Staatsbürgerschaftsbescheide an Nachkommen von Holocaust-Überlebenden im Österreichischen Generalkonsulat in New York und besuchten Rabbi Arthur Schneier in der Park East Synagogue. Gemeinsam mit Nehammer und Schallenberg hatte Van der Bellen am Mittwoch auch einen Termin bei UNO-Generalsekretär Antonio Guterres.

Guterres: Welt ist in großen Schwierigkeiten

Zum Auftakt der 77. Generaldebatte der UNO-Vollversammlung in New York hatte sich Guterres am Dienstag pessimistisch geäußert. Er listete diverse politische Krisen und Konflikte auf wie den Ukraine-Krieg, beklagte in dramatischen Tönen Hunger und Nahrungsmittelknappheit, explodierende Lebenshaltungskosten und soziale Ungleichheiten. „Unsere Welt ist in großen Schwierigkeiten“, so Guterres.

UN-Generalsekretär Antonio Guterres
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Guterres hat zum Auftakt der UNO-Generaldebatte vor einem „Winter des weltweiten Unmuts“ gewarnt

Außerdem führe die Welt einen „selbstmörderischen Krieg gegen die Natur“. Guterres mahnte: „Diese Krisen bedrohen die Zukunft der Menschheit und das Schicksal unseres Planeten.“ Auch die Ideale, für die die Vereinten Nationen stünden, seien in Gefahr.

Bei der Generaldebatte wollen insgesamt mehr als 140 Staats- und Regierungschefs im UNO-Hauptquartier in New York Reden halten. Dominiert wird das weltweit größte diplomatische Treffen von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine.