Illustrationen

Wissenschaft mit Bildern vermitteln

Wissenschaftlicher Fortschritt ist von der Vermittlung der Thesen und Erkenntnisse durch Bilder nicht zu trennen. Die spanische Autorin Anna Escardo spürt in einem kiloschweren Bildband dem Verhältnis von Illustration und Wissenschaft über 500 Jahre nach. „Die Wissenschaftsillustration hat nach wie vor eine große Zukunft“, sagt sie im ORF.at-Interview.

Am Anfang einer wissenschaftlichen Erkenntnis steht eine Idee. Diese ist meist nur so gut, wie ihre Vermittlung gelingt. Dass dieses Prinzip seit rund 500 Jahren gilt, macht Escardo mit ihrem Kompendium „Science Illustration“ deutlich, in dem sie rund 250 Illustrationen versammelt und die Geschichte der Wissenschaft seit der frühen Neuzeit bis heute als Mediengeschichte erzählt.

Von einer frühen nautischen Karte des Golfstroms bis zum Coronavirus: Entdeckungen können durch Bilder meist besser erfasst werden als durch Worte. Dabei gingen die teils ikonisch gewordenen Bilder stets mit technischen Umbrüchen im Gleichschritt. Neuerungen wie die Fotografie haben durch die Geschichte die früheren Techniken – etwa Skizzen – nie ganz abgeschafft: „Mit einer Illustration kann man einem zeitlichen Ablauf oder komplexen Datenlagen eine bildliche Form geben, ein Foto gibt lediglich einen einzelnen Augenblick wieder“, erklärt Escardo gegenüber ORF.at. Ein allgegenwärtiges Beispiel sind etwa Karten mit Temperaturverläufen und Klimadiagramme.

Fotostrecke mit 8 Bildern

Skizzen zeigen das Innenleben des menschlichen Körpers
Wellcome Collection; US National Library of Medicine (Montage)
Faszinationsgeschichte Anatomie: Von Andreas Vesalius’ „De humani corporis fabrica“ (1543), deren Illustrationen Tizian zugeschrieben werden, bis zu „An Atlas of Topographical Anatomy“ von Christian Wilhelm Braune (1877)
Skizze vom Mond und Montgolfier balloon
Library of Congress/Prints and Photographs Division/Tissandier Collection; Smithsonian Libraries, Washington, D.C.
Illustrationen an der Grenze der Vorstellungskraft: Galileo Galileis per Fernrohr vergrößerter Mond aus „Sidereus nuncius“ (1610) und die Darstellung des ersten bemannten Fluges der Brüder Montgolfiere am 19. Oktober 1783
Mr Babbage’s riesige Rechenmaschine, Charles Babbage, 1840
Science Museum/Science and Society Picture Library
Die Skizze als manifestierte Idee: Rechenmaschine, Charles Babbage, 1840
Skizzen von Marie Curie
Bibliothèque nationale de France
Marie Curies Aufzeichnungen zum Verhalten u. a. von Aluminium, Carbon-Monoxid und Carbon-Dioxid
Skizze einer Petrischale von Alexander Fleming, 1928
Hodgkin Familie
Auf der Suche nach dem Penicillin: Skizze einer Petrischale von Alexander Fleming, 1928
Hippocampus einer Maus und Amyloid plaques bei Alzheimer
Cajal Institute, “Cajal Legacy", Spanish National Research Council (CSIC), Madrid, Spanien; Bernard Becker Medical Library, Washington University School of Medicine (Montage)
Hippocampus einer Maus und pathologische Veränderungen bei Alzheimer
Sea-level pressure chart 1983
Taschen Verlag
Illustration von Tornadostärken auf See, Tetsuya Theodore Fujita, 1983
Grafiken zeigen DNA-Microarrays und des menschliche Genom
Takahashi/Yamanaka/Elsevier; AAAS/Courtesy Mary E. Challinor (Montage)
DNA-Microarrays und Karte des menschlichen Genoms

Zwischen Kunst und Wissenschaft

Die ersten Wissenschaftsillustrationen im modernen Sinn ortet Escardo zwar schon in handgeschriebenen mittelalterlichen Büchern, die in Klöstern entstanden und wie der 1440 in Italien entstandene „Tractatus de Herbis“ systematisches Wissen, dort in der Pflanzenkunde, durch vergleichende Bildtafeln vermitteln wollten.

Die Ära einer visuellen Wissenschaftsgeschichte beginnt für sie dennoch erst mit der medialen Revolution der Erfindung des Buchdrucks. Aus der Frühphase dieser Epoche stammt auch Andreas Vesalius’ „De humanis corporis fabrica“ (1543), der erste Anatomieatlas, bei dem Leichen als Anschauungsmaterial für die Studien dienten. Die künstlerische Ausführung der Illustrationen wird dem Alten Meister Tizian zugeschrieben. Hier beginnt eine Faszination für den menschlichen Körper, die bis in die bildende Kunst der Gegenwart reicht.

Denn bei wissenschaftlichen Illustrationen gilt, dass sie, je aufwendiger und farbiger sie gestaltet sind, desto eher für allgemeines Publikum produziert wurden. Gerade dort wird die Unterscheidung zwischen Illustration und Kunst dünn – und manche „Erkenntnisse“ sind derart überholt, dass deren Darstellung eher die Fantasie stimuliert, als Wissen veranschaulicht. Das gilt etwa für eine Karte von Island aus Abraham Ortelius’ „Theatrum Orbis Terrarum“ (1585) auf dem es von Seeungeheuern umringt wird, was die Insel eher als gefährliche Gegend kommunizieren sollte, als deren Geografie genau zu beschreiben.

Alte Karte
Taschen Verlag
„Island“, Abraham Ortelius: „Theatrum Orbis Terrarum“, Antwerpen, 1585

Änderung von Vorstellungswelten

Überhaupt lassen sich anhand der in dem Band versammelten Illustrationen Brüche in den Vorstellungswelten früherer Zeiten nachvollziehen. Galileo Galileis Mondskizzen in seinem „Siderius Nuntius“ (1610) entstanden, nachdem er nach dem Bau von über 60 Prototypen ein Fernrohr bauen konnte, das 20-fache Vergrößerung möglich machte und ihm erschloss, dass der Mond, anders als bis dahin angenommen, eine unregelmäßige und von Kratern übersäte Oberfläche besitzt.

Buchcover „Science Illustration“
Taschen Verlag
Julius Wiedemann (Hrsg.), Anna Escardo: Science Illustration. A History of Visual Knowledge from the 15th Century to Today. Englisch, Deutsch und Französisch. Taschen Verlag, 436 Seiten, 60 Euro.

Dieser Ausweitung in den Weltraum entspricht eine weitere in deutlich kleinere als bis dahin bekannte Räume: 1665 veröffentlichte Robert Hooke die Ergebnisse seiner Experimente mit einem Mikroskop – seine „Micrographia“ wurde laut Escardo zum ersten populärwissenschaftlichen Bestseller, in dem der englische Wissenschaftler den Begriff „Zelle“ prägte. Darin befindet sich eine der Lieblingsillustrationen der Autorin, eine detaillierte Skizze eines Flohs: „Für die Menschen damals war ungeheuer faszinierend, ein so kleines Lebewesen vergrößert abgebildet zu sehen.“

Nur allzu oft bewegte sich das auf Bildern skizzierte an der Grenze des Glaubhaften für die Zeitgenossen: Das galt bestimmt für die ersten automatischen Roboter des Erfinders Jaques de Vaucanson Mitte des 18. Jahrhunderts genauso wie für die Darstellung des ersten bemannten Fluges mit einem Heißluftballon durch die Brüder Joseph und Jacques Montgolfier 1783 und die technischen Skizzen für die ersten Versuche der Radiokommunikation des Ingenieurs Nikola Tesla 1896.

Abbildung und Vorstellung

Während die Illustration oft gewonnene Erkenntnisse vermittle, operiere sie in anderen Bereichen am Ursprung der wissenschaftlichen Ideen, so Escardo. Nicht nur in der Technik steht die Skizze am Anfang des Entstehungsprozesses, auch in der Architektur folgt das Gebäude dem Entwurf.

Auf die Frage nach der gelungensten Wissenschaftsillustration verweist sie auf den russischen Chemiker Dmitri Iwanowitsch Mendelejew, der 1869 die damals 63 bekannten chemische Elemente in seinem Periodensystem darstellte – allerdings ließ er in seiner Darstellung Platz für jene Elemente, deren Existenz er noch vor deren Entdeckung berechnen konnte. Wissen, das macht Escardo mit ihrem historischen Längsschnitt deutlich, bedurfte und bedarf noch immer der Kraft des Visuellen, gerade wenn es über einen kleinen Kreis von Spezialisten hinaus vermittelt werden soll.