Polizisten nehmen einen Demonstranten fest
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Teilmobilmachung

Unruhe in russischer Bevölkerung hält an

Angesichts der von Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch angekündigten Teilmobilmachung rückt der Angriffskrieg in der Ukraine neu ins Bewusstsein der Menschen. Während die Nachfrage nach Flügen ins Ausland enorm stieg, wurde in vielen Städten protestiert. Am Donnerstag wurden Bürgerrechtlern zufolge noch mehr als 1.300 Demonstrierende festgehalten. Berichte, wonach Festgenommenen Einberufungspapiere übergeben wurden, dementierte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nicht.

Auch wenn es laut Verteidigungsministerium „nur“ um eine Teilmobilmachung von 300.000 Rekruten geht, hat der Schritt Unruhe in der russischen Bevölkerung ausgelöst. In fast jeder Familie gibt es Reservisten. Eingezogen werden sollen vor allem Männer, deren Militärdienst noch nicht lange zurückliegt. Die Frage, bis zu welchem Alter einberufen wird, liege in der Kompetenz des Verteidigungsministeriums, sagte Peskow russischen Agenturen zufolge.

Bei den ersten größeren Kundgebungen der russischen Antikriegsbewegung seit März waren am Mittwoch in vielen Städten Menschen auf die Straße gegangen, darunter viele Frauen, die um das Leben ihrer Männer, Brüder und Söhne fürchten. Allein in der Hauptstadt Moskau waren es etwa 530 festgenommene Protestierende, in Sankt Petersburg 480, wie das Bürgerrechtsportal OVD-Info auflistete. OVD-Info zählte Festnahmen in 38 Städten. Von staatlicher Seite gab es keine Angaben zu den Protesten.

Die Polizei verletzte laut OVD-Info mehrere Festgenommene. In Moskau erlitt ein junger Mann eine Gehirnerschütterung, eine junge Frau verlor das Bewusstsein. Gegen das Gesetz seien 33 Minderjährige festgenommen worden, teilte OVD-Info mit. Auch neun Journalisten seien festgehalten worden. Einem Mann, der bei einer Antimobilisierungskundgebung in St. Petersburg verhaftet wurde, sei der Arm an zwei Stellen gebrochen und sein Telefon zertrümmert worden.

Nach Demos: Geldstrafen, Arrest – und Einberufung?

Aus mehreren Polizeistationen gab es Berichte, dass festgenommene junge Männer direkt zur Musterung für den Militärdienst vorgeladen worden seien. Es könnte also für die Betroffenen von der Straße direkt zum Militär und in den Krieg gehen. Kreml-Sprecher Peskow dementierte diese Berichte nicht: „Das ist nicht gegen das Gesetz.“ Nach wie vor handle es sich nicht um einen Krieg, sondern um einen militärischen Sondereinsatz in der Ukraine, sagte Peskow. OVD-Info riet dazu, gegen diese Art der Zustellung Protest einzulegen.

In der Regel werden die Festgenommenen nach einer Nacht in Polizeigewahrsam zu Geldstrafen oder Arrest verurteilt. Gegen manche werden Strafverfahren eingeleitet. In den ersten Wochen nach dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar waren bei Protesten 15.000 Menschen festgenommen worden. Seitdem hat die russische Führung die Strafen für Widerstand gegen den Krieg weiter verschärft.

Polizisten nehmen einen Demonstranten fest
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Bei Protesten gegen die Mobilmachung wurden am Mittwoch mehr als 1.300 Menschen festgenommen

In Moskau hatten die Behörden vor der Demonstration nachdrücklich vor einer Teilnahme gewarnt: Die Staatsanwaltschaft drohte den Menschen mit bis zu 15 Jahren Haft. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine vor knapp sieben Monaten geht die russische Staatsmacht unter anderem mit verschärften Gesetzen hart gegen Oppositionelle und Kriegsgegner vor. In den Polizeistationen wurden den Festgenommenen verschiedene Delikte zur Last gelegt, unter anderem Widerstand gegen die Polizei und Diskreditierung der Armee.

„Kein Schutz für Abgeordnete“

Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin rief zudem die Abgeordneten der Staatsduma nach dem Befehl für eine Teilmobilmachung zur Teilnahme an dem Krieg in der Ukraine auf: „Wer den Anforderungen der Teilmobilmachung genügt, sollte mit seiner Teilnahme bei der militärischen Spezialoperation helfen“, teilte der Duma-Chef am Donnerstag in seinem Nachrichtenkanal auf Telegram mit. „Es gibt keinen Schutz für die Abgeordneten.“

Der Parlamentschef reagierte damit auf die wohl in Abgeordnetenkreisen nicht seltene Auffassung, für sie gelte der Aufruf von Staatschef Wladimir Putin zur Landesverteidigung nicht. Ein Abgeordneter hatte gemeint, er werde im Land gebraucht. Zugleich lobte Wolodin, dass es Parlamentarier gebe, die bereits im Donbas im Einsatz seien. Eingezogen werden nach seiner Darstellung nur Reservisten mit Kampferfahrung und militärischen Spezialausbildungen.

Vyacheslav Volodin
AP
Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin rief die Abgeordneten der Staatsduma zur Teilnahme an dem Krieg auf

Berichte: Männer wollen massenweise Land verlassen

Unterdessen mehren sich in sozialen Netzwerken Berichte, wonach mehr und mehr Personen versuchen, Russland über die finnische Grenze zu verlassen. Der Verkehr nach Finnland habe sich in der Nacht verstärkt, bestätigte der Chef der finnischen Grenzschutzabteilung für internationale Angelegenheiten, Matti Pitkaniitty, der Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag. Es sei deutlich mehr los, aber die Lage sei unter Kontrolle.

An neun Kontrollpunkten stünden finnische Beamte bereit. Bereits am Mittwoch hatte der Grenzschutz mit etwas mehr als 4.800 Personen, die aus Russland über die Grenze im Osten Finnlands gekommen waren, deutlich mehr Einreisen verzeichnet als eine Woche zuvor. Da waren es noch gut 3.100. In Nordnorwegen gab es nach Angaben der für die Einwanderungskontrolle zuständigen Polizei keine Veränderungen im Grenzverkehr zu Russland.

Das russische Präsidialamt bezeichnete Berichte über russische Männer, die nach der Teilmobilmachung massenweise das Land verlassen, als übertrieben. Laut der in Russland beliebten Buchungsseite Aviasales waren jedoch alle Direktflüge in die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan am Mittwoch ausgebucht.

Antirussische Stimmung verschärft

Bereits am 27. Februar, als die meisten europäischen Länder angaben, ihren Luftraum für russische Flugzeuge sperren zu wollen, hatte sich in der russischen Mittelschicht Panik ausgebreitet, berichtete der „Spiegel“. Die Preise für Tickets nach Dubai, Baku und Istanbul waren in der Folge fast auf das Zehnfache gestiegen. Der Zustrom von Russen hatte jedoch gemischte Gefühle bei den Georgiern ausgelöst, die antirussische Stimmung im Land war gewachsen.

Tausende Menschen forderten die Regierung damals in einer Onlinepetition auf, eine Visapflicht für russische Staatsangehörige einzuführen und die Einwanderungsbestimmungen zu verschärfen. Andere forderten ihre Vermieter auf, russischen Neuankömmlingen die Miete zu verweigern.

Demonstranten in Georgien
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Demonstrierende protestierten im März vor der ehemaligen russischen Botschaft in Tiflis

Georgien erlebte 2008 selbst eine russische Invasion. Manche fürchten, dass Putin die ehemalige Sowjetrepublik als Nächstes ins Visier nehmen könnte. Die Bank von Georgien forderte im Frühjahr etwa, dass russische Kundinnen und Kunden eine Erklärung unterzeichnen, in der sie die Invasion in die Ukraine verurteilen und anerkennen, dass Russland damals einige Teile Georgiens besetzt hat.

EU-Kommission: Gemeinsame Haltung zu Flüchtlingen

Nach dem Befehl zur Teilmobilmachung in Russland verkündete die EU-Kommission, eine gemeinsame Haltung der Mitgliedsstaaten zum Umgang mit Flüchtlingen aus dem Land sei notwendig. Kommissionssprecher Peter Stano sagte zugleich, die EU-Länder müssten Einreiseanträge von Russen auf Einzelfallbasis entscheiden und dabei die Grundrechte und das Asylrecht berücksichtigen.

Mit Blick auf Berichte über eine steigende Zahl von Ausreisen sagte Stano, seit Beginn der russischen Invasion im Februar habe eine halbe Million Russen die Heimat verlassen, und verwies auf die Proteste in mehreren Städten. „Das zeigt, dass die Russen mit den Füßen abstimmen“, so der Kommissionssprecher in Brüssel.