Zwei Frauen spazieren in Trostyanets, zerstörte Gebäude im Hintergrund
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UNO zu Ukraine-Krieg

Exekutionen und sexuelle Gewalt

Die im März eingesetzte Untersuchungskommission der UNO hat eine erste Bilanz über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine gezogen. Bei ihren Untersuchungen stellte sie Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Bevölkerung fest, darunter auch Exekutionen und sexuelle Gewalt gegen Kinder. Die Ukraine drängt auf Konsequenzen vor internationalen Gerichten. Auch zu den am Freitag gestarteten Scheinreferenden in besetzten ukrainischen Gebieten äußerte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres scharfe Kritik.

Die Kommission unter Federführung von Erik Mose, dem ehemaligen Präsidenten des Tribunals für Ruanda, hat den Auftrag, Menschenrechtsverletzungen im Ukraine-Krieg aufzuarbeiten. Sie besuchte 27 Städte und Siedlungen sowie Gräber, Haft- und Folterzentren, befragte mehr als 150 Opfer und Zeugen und traf sich mit Interessengruppen und Regierungsbeamten.

Die Arbeit der Kommission konzentrierte sich auf Gebiete in der Ukraine, die zuvor von russischen Streitkräften besetzt waren: Kiew, Tschernihiw, Charkiw und Sumy. „Die Kommission hat festgestellt, dass Kriegsverbrechen in der Ukraine begangen worden sind“, so Mose. Am Freitag zogen er und sein Team vorläufige Bilanz, der Abschlussbericht soll erst nächstes Jahr vorliegen, denn noch immer laufen Untersuchungen in 16 Orten, die Untersuchungen sollen zudem ausgedehnt werden.

Mitglieder der Untersuchungskommission der UNO Pablo de Greiff, Jasminka Dzumhur und Erik Mose
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Mose (r.) und sein Team sehen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Russland boykottiert die Zusammenarbeit.

Opfer zwischen vier und 82 Jahre alt

Mose nannte am Freitag Beispiele für die Ergebnisse. Er sprach von Luftangriffen auf bewohnte Gebiete, einer großen Anzahl an Erschießungen und Massengräbern. Man habe Fälle festgestellt, in denen Kindern „vergewaltigt, gefoltert und illegal festgehalten“ wurden. Die Opfer von sexueller Gewalt seien zwischen vier und 82 Jahre alt gewesen. Während einige russische Soldaten sexuelle Gewalt als Strategie eingesetzt hätten, habe die Kommission „kein allgemeines Muster in dieser Richtung festgestellt“, fügte Mose hinzu.

Folteropfer hätten von Schlägen, Elektroschocks und Demütigungen erzählt. Es gebe „glaubhafte Anschuldigungen“ über viele Erschießungen. Man habe selbst Opfer gesehen, die gefesselte Hände, aufgeschlitzte Kehlen und Kopfschusswunden gehabt hätten, so Mose.

Zwangsadoptionen und Deportationen unter der Lupe

Auch Butscha, jener Vorort von Kiew, der nach dem Fund Hunderter getöteter Zivilisten zum Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg wurde, wurde untersucht. Hier habe man Exekutionen und Misshandlungen festgestellt. Isjum, wo kürzlich Hunderte Gräber entdeckt wurden, sei bisher nicht untersucht worden, doch das werde folgen, sagte der Skandinavier. Verbrechen gegen die Menschlichkeit habe man bisher nicht festgestellt. Als Nächstes wolle man Anschuldigungen nachgehen, Menschen seien deportiert und Kinder zwangsadoptiert worden.

UNO: schwere Kriegsverbrechen

Ein UNO-Untersuchungsbericht spricht von Kriegsverbrechen in einem erschütternden Ausmaß in der Ukraine. In den noch besetzten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine haben heute Scheinreferenden über einen Beitritt der Regionen zur Russischen Föderation begonnen.

Wer für die festgestellten Kriegsverbrechen verantwortlich ist, sagte Mose nicht. Der Prozess der Untersuchungen laufe noch. Er betonte, dass die Kommission in ihrer Arbeit unabhängig und unparteiisch sei. Konkret führte er auch zwei Fälle von misshandelten russischen Soldaten an. „Obwohl es nur wenige dieser Fälle gibt, werden wir diesen weiterhin nachgehen“, hieß es.

Es gebe aber keine Gleichwertigkeit, sagte das Kommissionsmitglied Jasminka Dzumhur. Die Verletzungen durch die russische Seite seien solcherart gewesen, „dass wir festgestellt haben, dass es sich um Kriegsverbrechen gehandelt hat“. Auch das dritte Kommissionsmitglied, der kolumbianische UNO-Experte Pablo de Greiff, sprach von „bedeutend größeren Zahlen und Vorfällen auf der Seite der Russischen Föderation, die den Charakter von Kriegsverbrechen haben“.

Russland nahm nicht an der Sitzung teil, der Kreml hatte es von vornherein abgelehnt, mit der Kommission zusammenzuarbeiten. Man habe versucht, in Kontakt mit der russischen Seite zu treten, jedoch erfolglos, sagte Mose. Russland bestreitet regelmäßig, in der Ukraine vorsätzlich Zivilisten anzugreifen; Anschuldigungen wegen Menschenrechtsverletzungen seien eine Verleumdungskampagne des Westens.

Entsetzte Reaktionen

Nach der Präsentation fand im Menschenrechtsrat eine Debatte statt, in der sich mehrere Dutzend Staaten zu Wort meldeten. Fast alle begrüßten den Bericht und verurteilten Russland, das dem Treffen trotz einer expliziten Einladung fernblieb. Für den Aggressorstaat ergriffen lediglich die Vertreter von Venezuela, Syrien und Belarus Partei. Die österreichische UNO-Botschafterin Desiree Schweitzer zeigte sich „entsetzt über die zahlreichen Berichte von Kriegsverbrechen“ und rief dazu auf, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

In Österreich reagierten ÖVP-Europaabgeordneter Othmar Karas und NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger auf den Bericht. Karas wertete die Feststellung von Kriegsverbrechen als „Beweis, wie wichtig entschlossene EU-Sanktionen sind. Wer jetzt deren Ende fordert, unterstützt Putins Propaganda“, twitterte er. Ähnlich äußerte sich Meinl-Reisinger: „Putin ist ein Kriegsverbrecher und gehört zur Verantwortung gezogen.“

Folgen in Den Haag möglich

Die Berichte der Kommission könnten Folgen haben. Sie könnten etwa vor nationalen und internationalen Gerichten verwendet werden wie im Fall eines ehemaligen syrischen Geheimdienstoffiziers, der im Jänner in Deutschland nach Foltervorwürfen inhaftiert wurde. Mose sagte, seine Kommission stehe mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in engem Austausch.

Die Ukraine bestand in einer ersten Reaktion darauf, dass alle Kriegsverbrechen geahndet werden müssten. „Wenn diese unbeantwortet bleiben, werden sie uns in eine dunkle Welt der Straflosigkeit und Freizügigkeit ziehen“, sagte der ukrainische Gesandte Anton Korynewytsch dem Menschenrechtsrat.

Guterres: Annexionen völkerrechtswidrig

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnete zudem die von Russland unterstützten Referenden in mehreren Gebieten der Ostukraine als möglichen Bruch des Völkerrechts. „Jede Annexion des Hoheitsgebiets eines Staates durch einen anderen Staat aufgrund der Androhung oder Anwendung von Gewalt ist eine Verletzung der UNO-Charta und des Völkerrechts“, sagte Guterres am Donnerstag bei einer Sondersitzung des UNO-Sicherheitsrates zum Ukraine-Krieg.

Zugleich betonte Guterres in Anspielung auf kaum verhohlene Atomdrohungen von Kreml-Chef Wladimir Putin: „Die Idee eines nuklearen Konflikts, einst undenkbar, ist zu einem Diskussionsthema geworden.“ Das sei nicht akzeptabel. Unterdessen beruhige sich der Krieg nicht, im Gegenteil: Er sei „weitere Schritte weg von jeder Aussicht auf Frieden – und hin zu einem endlosen Kreislauf von Schrecken und Blutvergießen“. Verantwortliche für mögliche Kriegsverbrechen müssten in einem fairen und unabhängigen Gerichtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden, forderte er.

Michel fordert Suspendierung Russlands aus Sicherheitsrat

EU-Ratspräsident Charles Michel hat unterdessen die Suspendierung Russlands aus dem UNO-Sicherheitsrat gefordert. „Wenn ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates einen nicht provozierten und nicht zu rechtfertigenden Krieg auslöst, einen Krieg, der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilt wurde, sollte seine Suspendierung vom Sicherheitsrat meiner Meinung nach automatisch erfolgen“, sagte der Belgier am Freitag bei der UNO-Generalversammlung in New York.