Wahlurne in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
Scheinreferenden

Abstimmen im Kugelhagel

Die verordneten Voten in der Ostukraine über eine Annexion aus Russland gehen weiter, auch wenn das Abstimmen mitunter lebensgefährlich ist. Die bisherigen Ergebnisse stimmen auch mit dem Wunsch des Kreml überein. Die international nicht anerkannte Annexion könnte schon in wenigen Tagen abgeschlossen werden. Russische Bürger versuchen weiterhin, vor der Einziehung in den Krieg zu flüchten.

Die Kämpfe in der Ostukraine wüten, dennoch werden die Menschen dazu gebracht, über die Annexion an Russland abzustimmen. In der Stadt Altschewsk im Gebiet Luhansk teilten die Behörden etwa mit, dass in Bombenschutzkellern abgestimmt werden könne. In der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja musste ein Wahllokal wegen schweren Beschusses von ukrainischer Seite an eine andere Stelle verlegt werden, wie die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS meldete.

Die Behörden der prorussischen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk sowie die Verwaltungen der Gebiete Saporischschja und Cherson halten ihre Abstimmungen noch bis Dienstag ab. Dann könnte es schnell gehen: Kreml-Chef Wladimir Putin soll die besetzten Gebiete schon am Freitag in die Russische Föderation aufnehmen. Dann würden Angriffe der Ukraine auf diesen Gebieten vom Kreml als Angriffe auf sein eigenes Staatsgebiet gelten, und Putin kündigte bereits an, mit allen Mitteln reagieren zu wollen.

Hunderte Festnahmen bei Demos in Russland

Trotz brutaler Polizeigewalt demonstrieren in Russland wieder Menschen gegen die von Kreml-Chef Wladimir Putin angeordnete Teilmobilmachung für den Krieg in der Ukraine. Sowohl in Moskau als auch in St. Petersburg und anderen Städten wurden zahlreiche Demonstrantinnen und Demonstranten festgenommen.

Serbien will Referenden nicht anerkennen

In der Region Saporischschja gab es am Sonntag bereits erste Ergebnisse: Am ersten Tag des Scheinreferendums hätten laut TASS angeblich 93 Prozent von 500 Stimmberechtigten für den Beitritt zur Russischen Föderation aus. TASS berief sich dabei auf Exit-Polls.

Die Ukraine, der Westen und die UNO sehen in den Zwangsabstimmungen einen Völkerrechtsbruch, kaum ein Land wird die Annexionen anerkennen. Auch Serbien nicht, wie es am Sonntag aus dem Außenministerium in Belgrad hieß. Eine Anerkennung würde den staatlichen und nationalen Interessen Serbiens „völlig zuwiderlaufen“, berichtete TASS und Berufung auf die serbische Agentur Tanjug.

Bei der Generaldebatte der UNO-Vollversammlung in New York nutzte Russlands Außenminister Sergej Lawrow seine Rede, um die Kritik an den Referenden abzuschmettern. Der „Wutausbruch“ des Westens sei unbegründet, sagte er. Die Bewohner der Regionen nähmen nur „ihr Land mit, in dem ihre Vorfahren seit Hunderten von Jahren leben“.

Duma will Annexionen am Donnerstag debattieren

Das russische Parlament könnte bereits am Donnerstag über Gesetzesentwürfe zur Eingliederung der Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja beraten. Dies berichten russische Nachrichtenagenturen mit Bezug auf ungenannte Quellen. Der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti zufolge könnte Putin am Freitag vor dem Parlament sprechen.

Der Gouverneur der Region Luhansk Serhi Haidai sagte indessen in einem Online-Interview, von Russland unterstützte Beamte seien in der Region mit Wahlurnen von Tür zu Tür gegangen. Namen der Einwohner, die nicht im Sinne Russlands abstimmten, seien notiert worden.

Kiew: Annexion macht Verhandlungen unmöglich

Eine Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland macht Verhandlungen mit dem Kreml aus Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unmöglich. Die Regierung in Moskau könne die Ergebnisse offiziell verkünden. „Das würde eine Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen mit dem Präsidenten der Russischen Föderation auf jeden Fall unmöglich machen“, sagte Selenskyj dem US-Sender CBS News in einem am Sonntag veröffentlichten Interview. Putin wisse das sehr gut, so der ukrainische Präsident.

Kritik wegen Chaos bei Teilmobilmachung

Gleichzeitig zu den Abstimmungen bereiten dem Kreml weitere Probleme Sorgen: Die Kritik an der von Putin verkündeten Teilmobilmachung wird lauter. Am Sonntag zeigten zwei Spitzenvertreter des russischen Parlaments und enge Verbündete Putins Verständnis für die zahlreichen Beschwerden über die Kampagne zur Mobilisierung. Walentina Matwijenko, die Vorsitzende des Föderationsrats, des Oberhauses des russischen Parlaments, verwies auf Berichte, wonach auch Männer einberufen wurden, die von der kürzlich verkündeten Teilmobilisierung eigentlich nicht betroffen sein dürften.

„Solche Auswüchse sind absolut inakzeptabel. Und ich halte es für absolut richtig, dass sie eine scharfe Reaktion in der Gesellschaft auslösen“, schrieb sie auf Telegram. Die Regionalgouverneure Russlands seien für die Umsetzung verantwortlich. Sie müssten sicherstellen, dass die Kriterien der Teilmobilisierung vollständig und fehlerfrei beachtet würden. Wjatscheslaw Wolodin, der Vorsitzende des Unterhauses, der Duma, wiederum erklärte, dass Fehler, sollten sie gemacht worden sein, korrigiert werden müssten. „Behörden auf allen Ebenen sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein.“

Stau vor finnischer Grenze

Seit Tagen versuchen nun zahlreiche Menschen, das Land zu verlassen und einer Einziehung in den Krieg zu entgehen. Am Sonntag gab der finnische Grenzschutz bekannt, dass die Bewegung derzeit nicht abflaue. Am wichtigsten Grenzübergang Vaalimaa hätten sich die Autos auf russischer Seite Sonntagfrüh etwa 500 Meter lang gestaut, teilte der Behördenleiter Matti Pitkäniitty mit. Schon am Samstag seien insgesamt 8.572 Russinnen und Russen über die Landgrenze in Finnland angekommen, vor einer Woche waren es 5.286.

Stau an finnischer Grenze Vaalimaa
APA/AFP/Lehtikuva/Jussi Nukari
Stau am Grenzübergang Vaalimaa: Weiterhin versuchen viele Russen, das Land zu verlassen

Anlässlich der jüngsten Proteste gegen die laufende Teilmobilmachung rief der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Moskaus Kämpfer zum Aufgeben auf. Es sei besser, die Einberufung zum Dienst abzulehnen, als auf fremder Erde als Kriegsverbrecher zu sterben, sagte Selenskyj in seiner am Samstagabend veröffentlichten Videobotschaft in russischer Sprache. Zugleich bot er an, dass sich russische Soldaten freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben könnten. Dort würden sie zivilisiert behandelt.

Mit Blick auf die hohen Strafen für Fahnenflüchtige in Russland, die Putin am Samstag in Kraft setzte, sagte Selenskyj, dass niemand erfahren werde, unter welchen Umständen die Soldaten aufgeben. „Wenn ihr Angst habt zurückzukehren und keinen Gefangenenaustausch wollt, dann werden wir einen Weg finden, auch das sicherzustellen.“

Hunderte Verhaftungen

Am Samstag wurden bei Protesten gegen die Teilmobilmachung mehr als 700 Menschen festgenommen. Das Menschenrechtsportal OVD-Info berichtete am Abend in Moskau von landesweit 747 Festnahmen in 32 Städten. Es handle sich nur um die namentlich bekannten Männer und Frauen, in Gewahrsam könnten noch deutlich mehr Menschen sein, hieß es. Die russische Polizei ging teils brutal gegen Teilnehmer der von den Behörden verbotenen Antikriegsproteste vor. Aus St. Petersburg wurden in sozialen Netzwerken Videos veröffentlicht, die zeigten, wie Männer in Kampfuniform und mit Helm auf Demonstranten einknüppelten.

Putin setzte diese Woche ein geändertes Gesetz über härtere Strafen für Deserteure in Kraft. Wer in den Zeiten einer Mobilmachung oder des Kriegszustands Fahnenflucht begeht, kann nun mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. Wer sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begibt, muss mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen. Russen im wehrpflichtigen Alter und Reservisten müssen zudem mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen, wenn sie die Teilnahme an Kampfhandlungen verweigern.