Parlament in Sofia
Reuters/Spasiyana Sergieva
Bulgarien in Dauerkrise

Vierte Wahl binnen 17 Monaten

Das traditionell russlandfreundliche EU-Land Bulgarien schreitet am Sonntag erneut zur Wahlurne. Auch nach drei Parlamentswahlen seit Frühjahr 2021 wurde keine dauerhaft stabile Mehrheit gefunden – zu zerklüftet ist die Politlandschaft, zu tief die Gräben zwischen den Parteien. Mit einem Fortschritt ist auch dieses Mal kaum zu rechnen.

Am Sonntag sind rund 6,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, die 240 Abgeordneten neu zu wählen. Allein an der erwarteten Wahlbeteiligung ist schon ersichtlich, dass die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Wahl hat: Mehr als 35 Prozent an Partizipation wurden von den Meinungsforschern nicht prognostiziert.

Zuletzt zerbrach Ende Juni die liberal-sozialistische Regierung unter Premier Kiril Petkow. Der reformorientierte Quereinsteiger und Harvard-Absolvent galt vor allem für die proeuropäischen Wählerschichten als großer Hoffnungsträger. Petkows Koalition wurde allerdings per Misstrauensvotum im Parlament gestürzt, angestoßen hatte es die 2020 abgewählte Mitte-rechts-Partei GERB des früheren Premiers Bojko Borissow.

GERB schaffte es zwar damit, Neuwahlen herbeizuführen, auch die Umfragen führt die bürgerliche Partei mit rund 26 Prozent an, doch politisch ist GERB völlig isoliert, niemand will mit ihr koalieren. Sie wird von fast allen Mitbewerbern für die grassierende Korruption im Land während ihrer über zehnjährigen Regierungszeit verantwortlich gemacht.

Grafik zur Parlamentswahl in Bulgarien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Mediana

Bis zu acht Parteien

Petkows Partei „Wandel fortgesetzt“ (PP), die sich den Kampf gegen Korruption auf die Fahnen schrieb, kommt laut Prognosen zwischen 16 und 18 Prozent auf Platz zwei. Um den dritten Platz rittern die russisch geprägte Bulgarische Sozialistische Partei, die antieuropäische Partei Vazrazhdane (9,5 Prozent) sowie die Partei der türkischen Minderheit, DPS. Zwischen sechs und Parteien werden im neuen Parlament erwartet.

Weil die Parteienlandschaft derart zerklüftet ist, die stärkste Partei keinen Partner finden dürfte und die zweitstärkste zu schwach sein wird, erwarten politische Beobachter auch nach dieser Wahl keine stabilen Mehrheiten. Bereits jetzt wird spekuliert, dass es wohl im nächsten Jahr eine fünfte Parlamentswahl brauchen werde.

Russlandfreundlicher Präsident wird aktiv

Wird tatsächlich keine ausreichende Mehrheit gefunden, muss erneut Präsident Rumen Radew das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Dann würde das Land weiter von einer von Radew ernannten Übergangsregierung gesteuert werden. Die bulgarische Verfassung verleiht dem Präsidenten in diesem Fall große Machtbefugnisse mit wenig Kontrolle.

Radew ist beliebt, steht aber auch wegen seiner russlandfreundlichen Haltung in der Kritik. Der Angriffskrieg auf die Ukraine ist freilich ein dominantes Thema im Wahlkampf, ebenso die einhergehende Teuerung im ärmsten Land der EU. Bulgarien ist nicht nur EU-Mitglied, es gehört auch der NATO an.

Radews Kurs laviert zwischen West und Ost, auch die Gesellschaft ist gespalten. Die EU findet Anklang, doch auch die Gruppe der EU-Gegner oder -Skeptiker ist groß. Bulgarien verurteilt den Angriffskrieg gegen die Ukraine, auch die Scheinreferenden sollen nicht anerkannt werden. Andererseits entschied Radews Übergangsregierung kürzlich, mit dem russischen Staatskonzern Gasprom über die Wiederaufnahme von Gaslieferungen zu verhandeln.

Bulgariens Präsident Rumen Radew
Reuters/Susana Vera
Rumen Radew

Zwischen Ost und West

Jeder Dritte ist zudem gegen die NATO-Mitgliedschaft Bulgariens, wie die Meinungsforschungsagentur Mediana laut APA erfragte. „Die hohe Inflationsrate und die Eskalation im Ukraine-Krieg sind die Hauptursache für die steigende Zahl der EU- und NATO-Skeptiker in Bulgarien“, hieß es da.

Der Politologe Parvan Simeonow hält die Enttäuschung über die Demokratie für eines der schlimmsten Szenarien. „Ich hoffe, es stellt sich nicht irgendwann heraus, dass niemand regieren will und jeder erwartet, dass der Präsident die Kastanien aus dem Feuer holt“, sagte er der Nachrichtenplattform Euractiv. Zu den Gerüchten, einige Parteien könnten dem Präsidenten den Ball für die alleinige Macht übergeben, sagte Simeonow: „Es ist kein Ball, es ist eine heiße Kartoffel; sie suchen jemanden, der die Verantwortung übernimmt.“