Steirischer herbst

Ukraine-Krieg in sechs Alpträumen

Schockbilder führen zu Abwehrreaktionen. Verschiedene russische Videokünstlerinnen und Videokünstler aus der Ukraine zeigen beim steirischen herbst bewusst keine Bilder von Leichen, sondern inszenieren Alpträume vom Krieg – mit Archivmaterial, Interviews und traumgleichen Sequenzen, die den Krieg für Momente nachfühlbar machen (siehe Videozusammenschnitt oben).

Eine Weihnachtsfeier vor über 20 Jahren, wo man feuchtfröhlich salutiert. Ein Video, mehr als 90 Jahre alt, in dem ein bewaffneter Uniformierter durchs Dorf marschiert. Der Krieg steckt der Ukraine in den Knochen, er ist Teil der kollektiven Erinnerung. Die Kämpfe, das Leiden, die langen Phasen politischer Fremdbestimmung, sie sind greifbar als transgenerationale Traumata. Und gerade eben wächst die nächste Generation im Krieg auf – oder auf der Flucht.

Die Videokünstlerinnen, deren Werke beim steirischen Herbst gezeigt werden – und auch online zu sehen sind – widmen sich genau diesem kollektiven Unbewussten, das genährt wird vom Krieg und all den Verwerfungen, die mit ihm einhergehen. Es sind keine Bilder verstümmelter Leiber, die zu sehen sind, sondern Aufnahmen, die wirken, als würden Taucher versunkene Welten erkunden.

Mutter Maria als „Körper des Donbas“

Das bestechendste der Werke stammt von Dana Kawelina. In „Letter to a Turtledove“ sieht man Grubenarbeiter, wie sie Gesteinsbrocken aus dem Boden stemmen. Die Ukraine war seit jeher für Russland bzw. für die Sowjetunion ein wichtiger Rohstofflieferant und Industriestandort. Da wird auch aufmarschiert. Aber die Bilder laufen im Rückwärtsgang. Die Gesteinsbrocken werden also nicht abgestemmt, sondern gleichsam affichiert – Vergangenes wird rückgängig gemacht.

Dann sieht man Versatzstücke religiös-nationalistischer Topoi. Die Mutter Maria als „Körper des Donbas“, arbeitendes Volk, Ölbohrhämmer, alles getaucht in dunkles Blau. Zwischendrin zwei junge Frauen, die singen – mit verschlossenen Augen, auf deren Lidern Augen aufgemalt sind. Sie sind zwar keine Zombies, die Körper fressen, aber ihr monotones Beweinen des Donbas geht tief unter die Haut.

Erotisierung der Gewalt

Ein historisches Originaldokument ist Oleksandr Dovzhenkos „Arsenal“ aus dem Jahr 1929. Der Film ist, wie der steirische herbst auf seiner Website schreibt, einer der großen Klassiker des sowjetischen Avantgarde-Kinos und die vielleicht schonungsloseste Darstellung der brutalen Kämpfe in der Ukraine vor 100 Jahren. Es geht darin um die Geschichte der Kiewer Arsenalwerk-Revolte von 1918, als Arbeiter für die Bolschewiken und gegen die Zentralversammlung der Ukraine rebellierten.

Dovzhenko reflektiert in „Arsenal“, wie es heißt, „über die ständige Erotisierung der Gewalt und die verführerische und giftige Süße der Rache“. Heute lese sich der Film wie eine Prophezeiung der aktuellen Gewalt in der Ukraine, die alle Elemente älterer Kriege wieder aufgreife: „Hungersnot, sexuelle Übergriffe, bedeutungslose Schlachten und die Angst vor Giftgas.“

Flüchtlingszelte als Zeugen des Krieges

Wohl am konkretesten mit dem aktuellen Krieg setzt sich Pawel Braila auseinander. Er ist freiwilliger Helfer in einem Flüchtlingslager in Moldawien, nahe der ukrainischen Grenze. Dort lernte er die 72-jährige Pensionistin Vera Derewjanko kennen, die Gedichte schreibt, in denen sie in eindringlichen Bildern den Krieg in ihrer Heimat verarbeitet. Eigentlich, erzählt sie im Interview, hätte sie nur zwei Tage im Lager bleiben dürfen, bevor ihr eine andere Unterkunft zugewiesen worden wäre.

Doch sie weigerte sich einfach zu gehen, weil sie möglichst nahe an ihrem Zuhause bleiben wollte. Die selbstbewusste Dame erzählt von ihrem Alltag und von ihren Emotionen. Ihre scheinbare Unaufgeregtheit wirkt umso berührender, als hinter ihr Dutzende, riesige Flüchtlingszelte die Dramatik dieses Krieges bezeugen.

Verminter Sehnsuchtsort

Eine poetische Reportage aus der Stadt Mariupol liefert Zoya Laktionowa. Sie zeigt einen Strand, Urlaubs- und Sehnsuchtsort der ansässigen Bevölkerung, der nicht mehr betreten werden darf. Wer es doch tut, weil es nicht anders geht, riskiert das Leben wegen der zahlreichen Minen, die am Ufer und im Meer selbst eine ständige Bedrohung darstellen. Ein Fischer hat bereits sein Leben verloren.

Aber auch abseits der Videos ist das Motto dieses steirischen herbstes „Ein Krieg in der Ferne“. In einer Ausstellung in Kooperation mit dem Kunsthaus Graz werden die „klassischen Narrative der Moderne infrage gestellt“ und „eine subjektive und fragmentarische Neuinterpretation der Sammlung der Neuen Galerie Graz“ zusammengestellt, „die Spuren ignorierter Kriege, verborgener Geschichten und unterdrückter Konflikte offenlegt“.