Arbeiter hängen russische Flaggen an ein Wohnhaus in Luhansk
AP
Ukraine

Scheinreferenden mit erwarteten Zahlen

Die russischen Besatzer haben die vom Westen nicht anerkannten Scheinreferenden in mehreren ukrainischen Gebieten am Dienstag für beendet erklärt und Ergebnisse der völkerrechtswidrigen Abstimmungen präsentiert. Behördenvertreter in den von Moskau besetzten Regionen Saporischschja und Cherson haben klare Ergebnisse für eine Annexion durch Russland vermeldet.

Die Wahlbehörde in Saporischschja erklärte nach Auszählung aller Stimmen, dass laut vorläufigem Ergebnis 93,11 Prozent für eine Annexion gestimmt hätten. In Cherson meldete die Besatzungsbehörde eine Zustimmung von 87,05 Prozent. In Donezk war die Auswertung der völkerrechtswidrigen Abstimmung noch nicht abgeschlossen, der Zustimmungswert wurde vorläufigen Angaben zufolge aber bereits mit knapp 95 Prozent angegeben. Aus Luhansk wurde noch nichts bekanntgegeben.

Selenskyj: Annexion stellt Putin gegen Menschheit

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte die internationale Gemeinschaft zum entschlossenen Vorgehen gegen eine möglicherweise bevorstehende Einverleibung auf. In einer Videoansprache vor dem UNO-Sicherheitsrat sagte Selenskyj: „Annexion ist die Art von Handlung, die ihn allein gegen die gesamte Menschheit stellt. Ein klares Signal wird jetzt von jedem Land der Welt benötigt.“ Jede illegale Annektierung sei ein Verbrechen gegen alle Staaten.

In seiner nächtlichen Videoansprache kündigte Selenskyj die Rückeroberung der betroffenen Gebiete seines Landes an. „Diese Farce in den besetzten Gebieten kann nicht einmal als Imitation von Referenden bezeichnet werden“, sagte Selenskyj. „Wir bewegen uns vorwärts und befreien unser Land!“

Scheinreferenden in Ukraine enden

Die Kämpfe in der Ostukraine wüten, dennoch wurden die Menschen dazu gebracht, über die Annexion an Russland abzustimmen. In den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine ist am Dienstag der letzte Tag der Referenden über einen Anschluss der Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja an Russland. Die Ukraine und ihre Verbündeten im Westen bezeichnen die Abstimmungen als unrechtmäßig und wollen das Ergebnis nicht anerkennen.

Zur Stimmabgabe aufgerufen waren auch ukrainische Flüchtlinge in Russland. Was die weiteren Schritte betrifft, werden die Separatistenführer wohl unmittelbar nach Bekanntgabe der Abstimmungsergebnisse bei Kreml-Chef Wladimir Putin offiziell die Aufnahme in russisches Staatsgebiet beantragen. Im Raum steht, dass dieser Schritt noch diese Woche erfolgt.

Der Föderationsrat – das Oberhaus des russischen Parlaments – könnte nach Angaben der Vorsitzenden Valentina Matwijenko am kommenden Dienstag über den Beitritt der besetzten ukrainischen Gebiete zu Russland entscheiden. An dem Tag sei die nächste planmäßige Sitzung angesetzt, sagte Matwijenko nach Angaben russischer Agenturen. Es bestehe bisher keine Notwendigkeit, Sondersitzungen anzuberaumen.

Zuvor war in Medien spekuliert worden, Putin könnte schon an diesem Freitag in einer Rede vor beiden Kammern des russischen Parlaments die Annexion der insgesamt vier Gebiete im Osten und Süden der Ukraine formell bekanntgeben. An dem Tag sei eine Ansprache Putins vor beiden Kammern des Parlaments angesetzt.

„Niemals“: Anerkennung für Westen keine Option

Es bestehe eine „realistische Möglichkeit“, dass Putin die Rede nutzen werde, um offiziell die Aufnahme zu verkünden, hieß es dazu am Dienstag auch im täglichen Lagebericht des Ministeriums, der sich auf Erkenntnisse des britischen Militärgeheimdienstes stützt. Befürchtet wird damit eine weitere militärische Eskalation, weil ukrainische Angriffe auf diese Regionen von Moskau als Angriff auf sein Staatsgebiet gewertet werden könnten.

Die von Kiew und seinen westlichen Verbündeten scharf kritisierten und nicht anerkannten Abstimmungen hatten am Freitag begonnen. Ein möglicher Anschluss der vier ukrainischen Regionen an Russland infolge der Scheinreferenden wird vom Westen als völkerrechtswidrig verurteilt.

UNO: Scheinreferenden kein Ausdruck des Volkswillens

Die Vereinten Nationen sprachen den Scheinreferenden die Legitimität ab. „Sie können nicht als echter Ausdruck des Volkswillens bezeichnet werden“, sagte die UNO-Beauftragte für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, am Dienstag bei einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrats. Diese einseitigen russischen Handlungen seien nicht mit dem Völkerrecht vereinbar und verfolgten das Ziel, „der gewaltsamen Aneignung des Territoriums eines anderen Staates durch einen Staat einen Schein der Legitimität zu verleihen“, sagte sie dem mächtigsten UNO-Gremium in New York.

EU will Sanktionen gegen Verantwortliche

Die EU will Sanktionen gegen jene Personen verhängen, die für die Scheinreferenden verantwortlich sind. Der Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, Peter Stano, sagte am Dienstag in Brüssel, es werde „Konsequenzen für alle Personen haben, die an der Organisation dieser illegalen Referenden beteiligt sind“.

Auch die Gruppe der sieben führenden Industriestaaten (G-7) hat bereits angekündigt, den Ausgang der Scheinreferenden „niemals“ anzuerkennen. Die USA kündigten eine „schnelle und ernste“ Reaktion in Form weiterer Wirtschaftssanktionen gegen Russland an. „Wir werden die Annexion von ukrainischem Territorium durch Russland nicht – niemals – anerkennen“, sagte US-Außenminister Antony Blinken.

„Teuflischer Plan“

Er wiederholte eine Drohung von US-Präsident Joe Biden, wonach die USA Russland wegen der Scheinreferenden „zusätzliche schnelle und hohe Kosten“ auferlegen wollen. „Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, was hier vorgeht. Russland ist in die Ukraine einmarschiert, hat Territorium besetzt und führt einen teuflischen Plan in Teilen der besetzten Gebiete aus, in denen die örtliche Bevölkerung verdrängt wurde.“

Manche Ukrainer seien deportiert worden, andere würden „ganz einfach verschwinden“, sagte Blinken. „Dann bringen sie Russen mit Bussen, setzen Marionettenregierungen ein und führen ein Referendum durch und manipulieren den Ausgang, um dann zu behaupten, das Territorium gehöre zu Russland.“ Selbst China rief in der Angelegenheit dazu auf, „die territoriale Integrität aller Länder“ zu achten, ohne allerdings die „Referenden“ zu verurteilen.

WErbung für SCheinreferendum in Zaporizhzhia
Reuters/Alexander Ermochenko
Die am Dienstag auslaufenden Abstimmungen werden vom Westen nicht anerkannt

Bericht: Neuer föderaler „Krim-Bezirk“ geplant

Einem Zeitungsbericht zufolge gibt es offensichtlich schon konkrete russische Pläne, wie die besetzten ukrainischen Gebiete in die Russische Föderation einverleibt werden sollen. Geplant sei die Bildung eines neuen föderalen „Krim-Bezirks“, berichtete die russische Zeitung „Wedomosti“ am Dienstag unter Berufung auf Quellen im Föderationsrat.

Dieser Bezirk solle die bereits 2014 annektierte Halbinsel Krim sowie die besetzten Teile der Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk umfassen.

Neuer Verwaltungschef solle Dmitri Rogosin werden, der im Juli als Chef der Raumfahrtbehörde Roskosmos abgelöst worden war, hieß es weiter. Schon im Juli hatten Medien spekuliert, der Hardliner und Nationalist könnte einer der Kreml-Kuratoren in den Separatistengebieten Donezk oder Luhansk im Osten der Ukraine werden. Eine Bestätigung gibt es nicht. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte dazu lediglich, wenn Entscheidungen zur Gründung eines neuen föderalen Bezirks getroffen würden, werde der Kreml darüber informieren.

Wehrschütz (ORF) über Scheinreferenden

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz spricht über die zu Ende gehenden Scheinreferenden in der Ukraine. Das Ergebnis wird von der Ukraine und ihren westlichen Verbündeten nicht anerkannt werden.

Ukraine gibt weitere Geländegewinne bekannt

Nach sieben Monaten russischer Invasion kontrolliert Moskau dabei zwar das Luhansker Gebiet fast komplett, das Donezker Gebiet aber nur gut zur Hälfte. Ukrainischen Angaben zufolge erzielte die Armee in den vorn Russland besetzten Gebieten weitere Geländegewinne. Unbestätigten Berichten zufolge näherten sich ukrainische Einheiten in Donezk nun auch dem Luhansker Gebiet auf wenige Kilometer.

In Luhansk meldeten die Behörden am Dienstag weiteren Beschuss durch Mehrfachraketenwerfer auf den Ort Altschewsk. Trotzdem seien alle Wahllokale geöffnet, hieß es. Das russische Staatsfernsehen zeigt bereits seit Tagen Menschen in den besetzten Gebieten, die sich glücklich zeigen, bald zu Russland zu gehören. Dagegen kritisieren unabhängige Medien, die Menschen würden unter Druck und vorgehaltenen Gewehrläufen ihre Stimme abgeben.

Wahllokal in Donetsk
Reuters/Alexander Ermochenko
Am letzten der Tag der Scheinreferenden wurden auch Wahllokale geöffnet

Ukrainische Offensive auch bei Kupjansk-Wuslowyj

Weiter auf dem Vormasch ist die ukrainische Armee nach Angaben aus Kiew im Gebiet Charkiw. Die östlich des Flusses Oskil gelegene Siedlung Pisky-Radkiwski stehe wieder unter ukrainischer Kontrolle, teilte die Verwaltung der Gemeinde Borowa in der Nacht auf Dienstag auf Telegram mit. Vor dem russischen Einmarsch am 24. Februar hatte die Siedlung etwa 2.000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Zuvor hatte der ukrainische Generalstab von russischem Beschuss auf Kupjansk-Wuslowyj etwa 40 Kilometer nördlich geschrieben und damit Berichte über die Rückeroberung der Stadt indirekt bestätigt. Kupjansk-Wuslowyj ist ein wichtiger Bahnknotenpunkt am linken Ufer des Oskil. Nach ihrer Vertreibung aus dem Großteil des Charkiwer Gebiets Anfang September zogen sich die russischen Truppen hinter die Linie der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez zurück. Sie konnten diese Linie jedoch nicht halten.

Medwedew bekräftigt Nuklearoption

Die russische Seite drohte indes erneut mit dem Einsatz von Atomwaffen. Ex-Präsident Dmitri Medwedew sagte am Dienstag via Telegram, sein Land habe das Recht, sich im Zweifel mit Atomwaffen zu verteidigen.

„Angenommen, Russland ist gezwungen, die fürchterlichste Waffe gegen das ukrainische Regime einzusetzen, das eine schwere Aggression begangen hat, die für die Existenz unseres Staates gefährlich ist“, schrieb Medwedew. „Ich glaube, dass sich die NATO auch in dem Fall nicht direkt in den Konflikt einmischen würde. (…) Die Demagogen jenseits des Ozeans und in Europa werden nicht in einer nuklearen Apokalypse sterben.“

Medwedew hatte bereits vergangene Woche erklärt, Russland sei bereit, alle Mittel inklusive Atomwaffen zur Verteidigung annektierter Gebiete einzusetzen.