Ein möglicher Verantwortlicher wird in dem NATO-Statement nicht genannt. Bereits am Vortag hatte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg – ebenfalls ohne Nennung eines Urhebers – von Sabotage gesprochen. Die Beschädigung der beiden „Nord Stream“-Pipelines gebe Anlass zu großer Sorge, wie die NATO am Donnerstag weiter mitteilte. Die Lecks gefährdeten die Schifffahrt und verursachten erhebliche Umweltschäden. „Wir unterstützen die laufenden Ermittlungen zur Klärung der Schadensursache.“
Zugleich machten die NATO-Länder deutlich, dass „jeder vorsätzliche Angriff auf die kritische Infrastruktur der Bündnispartner“ mit einer „gemeinsamen und entschlossenen Reaktion beantwortet werden“ würde. Man habe sich dazu verpflichtet, sich auf den „Einsatz von Energie und anderen hybriden Taktiken durch staatliche und nicht staatliche Akteure“ vorzubereiten, sie abzuschrecken und abzuwehren.
Weiteres Leck in Pipeline
Die wichtigsten Gasleitungen nach Europa sind sehr wahrscheinlich zum Ziel eines Sabotageakts geworden. Denn am Donnerstag wurde ein weiterer Fall gemeldet.
EU kündigt Belastungstests an
Mehrere Länder sprachen bereits am Dienstag von einem Anschlag auf die europäische Gasinfrastruktur als möglicher Ursache. Auch die EU-Kommission geht von Sabotage aus. Innenkommissarin Ylva Johansson sprach am Mittwochabend von einem Warnruf und kündigte einen Belastungstest für die kritische Infrastruktur in Europa an. „Wir (die EU-Kommission) werden uns jetzt an alle Mitgliedsstaaten wenden und wir werden einen Belastungstest durchführen in Bezug auf die kritische Infrastruktur“, sagte die Schwedin im ZDF-Interview.

„Haben natürlich einen Verdacht“
Angesichts der Lecks sprach sie von einem „Anschlag“, der eine „Eskalation“ und „eine Bedrohung“ sei. „Soweit ich es beurteilen kann, ist es ein sehr intelligenter Anschlag, der nicht verübt worden sein kann von einer normalen Gruppe von Menschen“, sagte die Kommissarin. Das Risiko sei groß, dass ein Staat dahinter stehe. „Wir haben natürlich einen Verdacht. Aber es ist zu früh, das abschließend zu beurteilen.“
Ähnlich vorsichtig äußerte sich der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, zu möglichen Verursachern der Lecks: „Wir haben derzeit mehr Fragen als Antworten.“ Die US-Regierung wolle keine Mutmaßungen über mögliche Hintermänner einer Sabotageaktion anstellen, bis Untersuchungen an den Erdgasleitungen abgeschlossen seien.
„Spiegel“: Offenbar starke Sprengsätze
Deutsche Sicherheitsbehörden gehen laut einem Bericht des „Spiegel“ davon aus, dass bei der Beschädigung der Pipelines in der Ostsee hochwirksame Sprengsätze zum Einsatz kamen. Berechnungen hätten ergeben, dass für die Zerstörung der Röhren Sprengsätze eingesetzt worden sein müssen, deren Wirkung mit der von 500 Kilo TNT vergleichbar ist, berichtete der „Spiegel“. In die Schätzung seien auch die von diversen Messstationen registrierten seismischen Signale einbezogen worden, hieß es in dem Bericht weiter.
Russland: „Akt des Terrorismus“
Auch Russland führt die Pipelinelecks auf einen „Akt des Terrorismus“ zurück. Zumindest sehe es danach aus, sagte Kreml-Sprecher Dmitry Pesow am Donnerstag. Die Aufklärung der Umstände erfordere eine Zusammenarbeit mehrerer Staaten, fügte er hinzu. Zu einem CNN-Bericht, wonach in der Nähe der Lecks russische Kriegsschiffe und U-Boote gesichtet worden sein sollen, sagte Peskow, die Präsenz der NATO in dem Gebiet sei weitaus größer.
Die russische Generalstaatsanwaltschaft leitete nach eigenen Angaben bereits ein Verfahren wegen internationalen Terrorismus ein. Moskau begründete den Schritt damit, dass mit der Beschädigung der Pipelines „Russland erheblicher wirtschaftlicher Schaden zugefügt“ worden sei.
Der russische Staatskonzern Gasprom hatte bis Ende August durch „Nord Stream 1“ Gas nach Europa gepumpt, diese Lieferungen dann aber unter Verweis auf technische Probleme, die sich wegen Sanktionen angeblich nicht lösen ließen, eingestellt. Die deutsche Regierung nannte die Begründung vorgeschoben und vermutete politische Beweggründe hinter dem Lieferstopp.
Schwedische Küstenwache: Lecks teils nah beieinander
Der Schaden an den Gasleitungen ist noch größer als bisher angenommen: Nach Angaben der schwedische Küstenwache gibt es in der nähe der dänischen Ostsee-Insel Bornholm ein weiters – viertes – Leck. Von den vier Lecks befinden sich nach Angaben der Küstenwache jeweils zwei in den Ausschließlichen Wirtschaftszone Schwedens und Dänemarks. Nach derzeitigem Stand gibt es somit an beiden Leitungen von „Nord Stream 1“ jeweils ein bekanntes Leck und zwei an einer der Leitungen von „Nord Stream 2“. Leitung B sei weiterhin stabil, sagte ein Sprecher der Nord Stream 2 AG.
Drei der vier Lecks befinden sich den Angaben zufolge in wenigen Kilometern Abstand zueinander. Die beiden Austrittspunkte liegen nur eine Seemeile (knapp 1,8 Kilometer) voneinander entfernt, teilte die schwedische Küstenwache am Donnerstag mit.
Neue Aufnahmen von Austrittsstelle
Die Küstenwache veröffentlichte am Donnerstag auch neue Aufnahmen, auf denen das auf der Wasseroberfläche austretende Gas zu sehen ist. Der größere Austrittspunkt befindet sich den Angaben zufolge oberhalb von „Nord Stream 1“, der kleinere bei „Nord Stream 2“. Der Gasaustritt, der an der Oberfläche zu sehen ist, sei insgesamt konstant, berichtete die Besatzung des schwedischen Küstenwachenschiffs „KBV 003 Amfitrite“.

Die an sich noch nicht im Betrieb befindliche Pipeline „Nord Stream 2“ war ebenfalls mit russischem Gas befüllt. Moskau hat die Pipeline in den vergangenen Monaten immer wieder als möglichen Ersatz für „Nord Stream 1“ angeboten, allerdings wurde die Leitung von Deutschland nicht zertifiziert. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gilt eine Inbetriebnahme als ausgeschlossen.
Schwere Umweltschäden befürchtet
Die Gaslecks führen nach Einschätzung des deutschen Umweltbundesamts (UBA) zu schweren Klimaschäden. Sämtliches Methan in den Pipelines werde in die Atmosphäre gelangen, teilte die Behörde am Mittwoch mit. Grund dafür sei, dass es keine Abschottungsmechanismen an den Pipelines gebe.
Insgesamt werden laut UBA voraussichtlich 0,3 Millionen Tonnen Methan in die Atmosphäre gelangen. Methan sei „deutlich klimaschädlicher als CO2“. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) legte Berechnungen vor, wonach mehr als 350.000 Tonnen Methan aus den beschädigten Pipelinesträngen auszutreten drohen. Die DUH forderte daher die Betreiber der Pipelines und die zuständigen Aufsichtsbehörden auf, das verbleibende Gas aus allen Strängen „unverzüglich abzupumpen“. Bereits jetzt sei durch die Lecks ein „unermesslicher Schaden für den Klimaschutz entstanden“.
Von Seismografen registrierte Erschütterungen
Aus den Pipelines tritt seit Montag Gas aus. In der Nacht auf Montag war zunächst in einer der beiden Röhren der nicht genutzten Pipeline „Nord Stream 2“ ein starker Druckabfall festgestellt worden. Später meldete der Betreiber von „Nord Stream 1“ einen Druckabfall auch in diesen beiden Röhren. Dänische Behörden entdeckten schließlich insgesamt drei Lecks an den beiden Pipelines. Am Donnerstag meldete Schweden schließlich ein viertes Leck.
Laut Seismologen wurden nahe den Lecks Erschütterungen registriert. Ein Seismograf auf Bornholm habe Medienberichten zufolge am Montag zunächst um 2.00 Uhr und dann um 19.00 Uhr angeschlagen. Die Zeitung „Svenska Dagbladet“ („SvD“) vermutete am Donnerstag eine weitere Erschütterung. Ob es sich um Sabotageakte an den Gasröhren handelt, ist zwar weiter unbestätigt. Allerdings gebe es auch keine Hinweise auf ein Beben, weswegen etwa auch der Seismologe Björn Lund vom Schwedischen Seismologischen Zentrum der Universität Uppsala gegenüber dem deutschen „Tagesspiegel“ sagte: „Es gibt keinen Zweifel, dass das Explosionen waren.“