Soldaten mit ukrainischer Flagge in Lyman
AP/Head of Ukrainian Presidential Administration Handout
Lyman erobert

Wichtiger Etappensieg für Ukraine

Einen Tag nach der völkerrechtswidrigen Annexion mehrerer ukrainischer Regionen hat die ukrainische Armee eine strategisch wichtige Stadt in einer annektierten Region erobert. Putins treuer tschetschenischer Führer Ramsan Kadyrow forderte daraufhin den Einsatz von Nuklearwaffen. Ganz dürften die Kämpfe in der Stadt allerdings noch nicht vorbei sein.

Nach der russischen Annexion besetzter Gebiete feierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt Lyman im Osten des Landes. „Die ukrainische Flagge weht bereits in Lyman im Gebiet Donezk“, erklärte Selenskyj am Samstag in seiner täglichen Videoansprache. In der Stadt werde zwar immer noch gekämpft, doch von dem „Pseudoreferendum“ sei dort keine Spur mehr, sagte er.

Ein hochrangiger Berater Selenskyjs postete später ein Video, das die Übernahme der Kontrolle über die Stadt Lyman zeigen soll. „Liebe Ukrainer – heute haben die Streitkräfte der Ukraine Lyman zurückerobert und die Kontrolle übernommen“, sagt ein ukrainischer Soldat in dem Video, das Kyrylo Timoschenko, stellvertretender Leiter des Präsidialamts, bereitstellte.

Russland: Es drohte Einkesselung

Das russische Verteidigungsministerium hatte Stunden zuvor den Abzug bekanntgegeben. Unklar ist aber, ob und wie viele russische Soldaten in Lyman in ukrainische Kriegsgefangenschaft gefallen sind. Nach Angaben des ukrainischen Verwaltungschefs für Luhansk, Serhij Hajdaj, waren Samstagfrüh 5.000 Soldaten eingekesselt.

Die Militärexperten des renommierten Institute for the Study of War sehen in dem Rückzug russischer Truppen aus Lyman „mit ziemlicher Sicherheit“ eine bewusste Entscheidung von Russlands Präsident Wladimir Putin. Nicht die Militärkommandos hätten entschieden, dass die Fronten nahe der Städte Kupjansk oder Lyman nicht verstärkt werden, sondern der Präsident selbst, hieß es am Samstagabend in einer ersten Analyse. Es deute darauf hin, dass sich Putin viel mehr um die Sicherung strategischer Gebiete in den Regionen Cherson und Saporischschja kümmern wolle.

Beim Rückzug aus Lyman erlitten die Russen nach Einschätzung britischer Geheimdienste hohe Verluste. Die Stadt sei zuvor mutmaßlich von unterbesetzten russischen Einheiten sowie Reservisten verteidigt worden, berichtete das britische Verteidigungsministerium am Sonntag. Beim Rückzug über die einzige Straße aus der Stadt, die noch unter russischer Kontrolle sei, seien wohl viele Soldaten gefallen.

Nur einen Tag nach illegaler Annexion

Russland hatte nach international nicht anerkannten Scheinreferenden erst am Freitag völkerrechtswidrig die vier Regionen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja annektiert – obwohl es sie nur teilweise kontrolliert. Im Norden des Gebietes Donezk musste der Kreml nun mit dem Verlust von Lyman eine weitere bittere militärische Niederlage hinnehmen.

„Übrigens haben sie dort schon angefangen, sich gegenseitig zu beißen: Sie suchen nach den Schuldigen, beschuldigen einige Generäle des Versagens“, kommentierte Selenskyj die verärgerten Reaktionen aus Moskau auf den Rückzug in Lyman. Es sei nur der erste Warnschuss für all diejenigen, die sich am Krieg von Putin beteiligten. Bis sie nicht das Problem mit dem einen lösten, „der diesen für Russland sinnlosen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, werden sie einer nach dem anderen getötet und zu Sündenböcken gemacht“, prophezeite der 44-Jährige.

Russische Armee gibt Lyman auf

Die russische Armee hat die strategisch wichtige Stadt in der Oblast Donezk aufgegeben, nachdem ukrainische Truppen Lyman fast eingekesselt hatten. Die Kleinstadt gilt als wichtiger Stützpunkt für die russische Kriegslogistik.

Wochenlanger Kampf

Seit Wochen wurde um Lyman erbittert gekämpft. Nach der Niederlage im nordukrainischen Gebiet Charkiw und ihrem Rückzug von dort versuchten die russischen Truppen, eine neue Frontlinie entlang der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez aufzubauen. Lyman als nächste Stadt gegenüber dem von Kiew gehaltenen Ballungsraum Slowjansk – Kramatorsk galt diesbezüglich als wichtig. Einerseits, um selbst Angriffe im Norden des Donbas-Gebietes lancieren zu können, andererseits als Barriere für eine ukrainische Gegenoffensive.

Die Ukrainer hatten die Stadt in den vergangenen Tagen in die Zange genommen. Angriffe wurden sowohl von Westen als auch von Norden und Süden lanciert. Die einzige Nachschub- und Rückzugsverbindung der Russen nach Osten über Saritschne und Torske geriet unter den Beschuss der ukrainischen Artillerie.

Annexion und internationale Isolation

Russland hatte Lyman, wo vor Kriegsausbruch 20.000 Menschen lebten, im Mai eingenommen. Danach wurde es zu einem militärischen Logistik- und Transportzentrum ausgebaut. Nach der russischen Schlappe in Charkiw galt die Stadt als so wichtig, dass die russische Führung sie möglichst lange halten wollte, zumindest aber bis zur Erklärung der Annexion der vier ukrainischen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. Kein Staat erkennt diesen Bruch des Völkerrechts an.

Kadyrow für Einsatz von Atomwaffen

Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Kadyrow, rief unterdessen dazu auf, den Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine zu prüfen. Kadyrow kritisierte am Samstag auf Telegram die russischen Kommandanten für den Abzug aus Lyman. „Meiner persönlichen Meinung nach sollten drastischere Maßnahmen ergriffen werden, bis hin zur Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzregionen und dem Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft.“

Berlin liefert Luftabwehrsystem

Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht traf unterdessen zu einem Überraschungsbesuch in der Hafenstadt Odessa ein. Nach einem Treffen mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Olexij Resnikow sagte sie die Lieferung des versprochenen bodengestützten Luftabwehrsystems Iris-T SLM innerhalb weniger Tage zu. Selbst die Bundeswehr verfügt noch nicht über das moderne System.

Auf der bereits seit acht Jahren annektierten Schwarzmeer-Insel Krim kam es offenbar erneut zu Explosionen auf einem Militärflughafen. Dem ukrainischen Militär sind bereits mehrere Schläge auf Stützpunkte der russischen Luftwaffe auf der Halbinsel gelungen.

Die ukrainischen Behörden warfen der russischen Armee vor, beim Beschuss einer zivilen Autokolonne nahe der Stadt Kupjansk 24 Menschen getötet zu haben – darunter 13 Kinder. Moskau wiederum warf Kiew vor, fliehende Zivilisten beschossen zu haben. Die Angaben beider Seiten waren von unabhängiger Seite nicht überprüfbar.

Der vermisste Leiter des besetzten AKW Saporischschja, Ihor Muraschow, soll unterdessen von den Besatzern für Befragungen vorübergehend festgenommen worden sein. Das erfuhr die UNO-Atombehörde IAEA von den russischen Behörden. Nähere Angaben wurden nicht gemacht. Die staatliche ukrainische Energiebehörde Enerhoatom hatte erklärt, Muraschow sei am Freitag von einer russischen Patrouille festgenommen worden. Russland hält das AKW seit Anfang März besetzt. Kiew forderte die sofortige Freilassung Muraschows. IAEA-Chef Rafael Grossi fährt nächste Woche nach Kiew und Moskau. Er fordert eine Sicherheitszone rund um AKWs, insbesondere jenes von Saporischschja.