Ukrainische Soldaten vor dem Rathaus in Lyman
Reuters/81 Airborne Brigade Of The Ukrainian Armed Forces
Selenskyj

Lyman „ist vollständig geräumt“

Der schwere russische Rückschlag mit dem Verlust der ukrainischen Stadt Lyman – nur einen Tag nach der völkerrechtswidrigen Annexion von vier ukrainischen Regionen – ist in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Erfolg für die Ukraine. Den russischen Rückzug soll Kreml-Chef Wladimir Putin angeblich selbst befohlen haben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte unterdessen Lyman am Sonntag für „vollständig befreit“.

Seit 12.30 Uhr (11.30 MESZ) sei die Stadt „vollständig“ von russischer Militärpräsenz befreit, sagte Selenskyj in einem in Onlinenetzwerken veröffentlichten Video und fügte hinzu: „Dank an unser Militär!“ Die strategisch wichtige Stadt Lyman war seit dem Frühjahr von Moskaus Truppen besetzt.

Doch der Erfolg der ukrainischen Soldaten ist laut Selenskyj nicht auf die Rückeroberung der Stadt Lyman beschränkt. „Die Geschichte der Befreiung von Lyman in der Donezk-Region ist zur populärsten in den Medien geworden. Aber die Erfolge unserer Soldaten sind nicht auf Lyman beschränkt“, sagte Selenskyj Sonntagabend in seiner nächtlichen Videobotschaft. Details nannte er nicht.

„Rückeroberungen lassen Annexionen vergessen“

Angesichts der jüngsten Erfolge seiner Armee bei der Rückeroberung zwischenzeitlich besetzter Gebiete bezeichnete Selenskyj die Annexionen durch Russland als bedeutungslos. „Sobald die ukrainische Flagge zurückgekehrt ist, erinnert sich niemand mehr an die russische Farce mit irgendwelchen Papieren und irgendwelchen Annexionen“, sagte Selenskyj in der Videoansprache weiter.

Ukrainischer Präsident Zelenskiy
Reuters/Ukrainian Presidential Press Service
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj

Weitere militärische Niederlage für Russland

Russland hatte nach international nicht anerkannten Scheinreferenden erst am Freitag völkerrechtswidrig die vier Regionen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja annektiert – obwohl es sie nur teilweise kontrolliert. Im Norden des Gebietes Donezk musste der Kreml nun mit dem Verlust von Lyman eine weitere bittere militärische Niederlage hinnehmen.

Diese ist umso bitterer, als Russland rund um Lyman eine starke Verteidigung aufgebaut hat. Die Folgen sind noch unklar – etwa, ob und wie viele russische Soldaten beim Kampf um Lyman bzw. beim Abzug in ukrainische Kriegsgefangenschaft gerieten.

Wichtiger Beweis der Handlungsfähigkeit

Für die Ukraine öffnet sich damit strategisch die Möglichkeit, tiefer in die russisch besetzten Ostregionen vorzudringen – soweit die Witterung in den nächsten Tagen und Wochen noch weiteres Vorrücken abseits der Hauptstraßen zulässt.

Zugleich stellte die ukrainische Armee neuerlich für den Westen sichtbar unter Beweis, dass sie – bei entsprechender Versorgung mit Waffen und Munition – imstande ist, die nominell übermächtige russische Armee zurückzudrängen. Tatsächlich erhielt Kiew noch am Wochenende Zusagen für weitere Waffenlieferungen, unter anderem von Deutschland.

Selenskyj: Sie suchen nach Schuldigen

„Übrigens haben sie dort schon angefangen, sich gegenseitig zu beißen: Sie suchen nach den Schuldigen, beschuldigen einige Generäle des Versagens“, kommentierte Selenskyj am Samstag die verärgerten Reaktionen aus Moskau auf den Rückzug in Lyman. Es sei nur der erste Warnschuss für all diejenigen, die sich am Krieg von Putin beteiligten. Bis sie nicht das Problem mit dem einen lösten, „der diesen für Russland sinnlosen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, werden sie einer nach dem anderen getötet und zu Sündenböcken gemacht“, prophezeite der 44-Jährige.

ISW: Putin konzentriert sich wohl auf Süden

Die Militärexperten des renommierten Institute for the Study of War (ISW) sehen unterdessen in dem Rückzug russischer Truppen aus Lyman „mit ziemlicher Sicherheit“ eine bewusste Entscheidung Putins.

Nicht die Militärkommandos hätten entschieden, dass die Fronten nahe der Städte Kupjansk oder Lyman nicht verstärkt werden, sondern der Präsident selbst, hieß es am Samstagabend in einer ersten Analyse. Es deute darauf hin, dass sich Putin mehr um die Sicherung strategischer Gebiete in den Regionen Cherson und Saporischschja kümmern wolle.

Auch ukrainische und russische Quellen wiesen übereinstimmend darauf hin, dass die russischen Streitkräfte ihre Stellungen in den Regionen Cherson und Saporischschja weiter verstärkten, schrieben die Experten des ISW weiter. Sie berichteten zudem von einem „gescheiterten Bodenangriff“ russischer Truppen auf den Ort Kosatscha Lopan im nördlichen Gebiet von Charkiw.

Russischer Präsident Vladimir Putin
Reuters/Sputnik
Der russische Präsident Wladimir Putin bei seiner Rede zur Annexion ukrainischer Gebiete

Militärhistoriker: Erfolg beeindruckender als in Charkiw

Ukrainische Soldaten hätten den Angriff laut Generalstab nahe der russischen Grenze abgewehrt. Solche Angriffe deuteten darauf hin, dass Putin wahrscheinlich weiter das Ziel verfolge, die Kontrolle über Gebiete jenseits der von ihm rechtswidrig annektierten Regionen zurückzugewinnen – anstatt Soldaten gegen die ukrainische Offensive im Donbas einzusetzen.

Der Militärhistoriker Phillips P. Obrien twitterte, dass der ukrainische Erfolg von Lyman „beeindruckender“ als der Erfolg in der Region Charkiw sei. „Die Ukrainer werden womöglich nie wieder eine Gegend finden, die (von den Russen, Anm.) so schlecht verteidigt wird wie Charkiw“, so Obrien. Lyman dagegen sei von den Russen vor ihrer Niederlage zu einem wichtigen Standpunkt gemacht worden, „es scheint, als hätten sie viele Truppen dort gehabt“.

Ukrainische Soldaten geben vor dem Rathaus in Lyman eine Erklärung ab
Reuters/81 Airborne Brigade Of The Ukrainian Armed Forces
Ukrainische Soldaten vor dem Rathaus in Lyman

Briten: Welle der öffentlichen Kritik an Führung

Beim Rückzug aus Lyman erlitten die Russen nach Einschätzung britischer Geheimdienste hohe Verluste. Die Stadt sei zuvor mutmaßlich von unterbesetzten russischen Einheiten sowie Reservisten verteidigt worden, berichtete das britische Verteidigungsministerium am Sonntag. Beim Rückzug über die einzige Straße aus der Stadt, die noch unter russischer Kontrolle sei, seien wohl viele Soldaten gefallen.

Russische Armee gibt Lyman auf

Die russische Armee hat die strategisch wichtige Stadt in der Oblast Donezk aufgegeben, nachdem ukrainische Truppen Lyman fast eingekesselt hatten. Die Kleinstadt gilt als wichtiger Stützpunkt für die russische Kriegslogistik.

Der Rückzug habe in russischen Regierungskreisen eine Welle an öffentlicher Kritik an der Militärführung ausgelöst, hieß es von den Briten. Weitere Niederlagen in den Regionen der annektierten Gebiete dürften das noch verstärken und den Druck auf hochrangige Kommandeure erhöhen.

Wochenlanger Kampf

Seit Wochen wurde um Lyman erbittert gekämpft. Nach der Niederlage im nordukrainischen Gebiet Charkiw und ihrem Rückzug von dort versuchten die russischen Truppen, eine neue Frontlinie entlang der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez aufzubauen. Lyman als nächste Stadt gegenüber dem von Kiew gehaltenen Ballungsraum Slowjansk – Kramatorsk galt diesbezüglich als wichtig. Einerseits, um selbst Angriffe im Norden des Donbas-Gebietes lancieren zu können, andererseits als Barriere für eine ukrainische Gegenoffensive.

Die Ukrainer hatten die Stadt in den vergangenen Tagen in die Zange genommen. Angriffe wurden sowohl von Westen als auch von Norden und Süden lanciert. Die einzige Nachschub- und Rückzugsverbindung der Russen nach Osten über Saritschne und Torske geriet unter den Beschuss der ukrainischen Artillerie.

Annexion und internationale Isolation

Russland hatte Lyman, wo vor Kriegsausbruch 20.000 Menschen lebten, im Mai eingenommen. Danach wurde es zu einem militärischen Logistik- und Transportzentrum ausgebaut. Nach der russischen Schlappe in Charkiw galt die Stadt als so wichtig, dass die russische Führung sie möglichst lange halten wollte, zumindest aber bis zur Erklärung der Annexion der vier ukrainischen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. Kein Staat erkennt diesen Bruch des Völkerrechts an.

Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Kadyrow, rief unterdessen dazu auf, den Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine zu prüfen. Kadyrow kritisierte am Samstag auf Telegram die russischen Kommandanten für den Abzug aus Lyman. „Meiner persönlichen Meinung nach sollten drastischere Maßnahmen ergriffen werden, bis hin zur Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzregionen und dem Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft.“