russische Reservisten
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Flucht, Proteste, Pannen

Russland ringt mit Teilmobilmachung

Mit der Teilmobilmachung hat Russland jüngst eine neue Eskalationsstufe im Ukraine-Krieg eingeleitet. Es zeigt sich aber immer deutlicher, dass die Einberufung neuer Soldaten nicht nach Plan läuft. Zuerst entwickelten sich Proteste und eine größere Fluchtbewegung ins Ausland, nun mehren sich Berichte über illegale oder schlecht organisierte Einberufungen sowie grobe Pannen bei Ausbildung und Ausrüstung. In der russischen Bevölkerung sorgt die Entwicklung für Rumoren.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte am 21. September die Mobilisierung von rund 300.000 Reservisten für den Krieg in der Ukraine angeordnet. Doch die Umsetzung dieses Befehls läuft nicht nach Plan – und das hat Konsequenzen für die militärische und politische Entwicklung, so zunehmend der Tenor von Fachleuten.

Von einer „dysfunktionalen“ Kampagne sprach zuletzt etwa das britische Verteidigungsministerium. Diese ist schon chaotisch gestartet: Bereits kurz nach der Anordnung der Teilmobilmachung entwickelte sich eine beachtliche Fluchtbewegung. Russische Nachbarländer – darunter Kasachstan, Kirgistan, Georgien und die Mongolei – meldeten zahlreiche Grenzübertritte. Die Kontrollen wurden bereits verschärft: Am Sonntag teilte die russische staatliche Agentur Interfax mit, man habe an der Grenze zu Georgien 180 Männer aufgegriffen und ihnen gleich einen Einberufungsbefehl übergeben.

Personen überqueren den Grenzübergang Werchni Lars
APA/AFP/Vano Shlamov
Flucht zu Fuß über die georgische Grenze

Auch die Türkei hatte sich in den vergangenen Wochen zum wichtigen Ziel für russische Staatsangehörige entwickelt. Im Gegensatz zu westlichen Staaten ist der Flugverkehr zwischen den beiden Ländern aufrecht, die Türkei erlaubt Russinnen und Russen eine visumfreie Einreise. Zahlen zu Ankünften hat Ankara bisher keine veröffentlicht.

Als wichtiges Ziel erwies sich angesichts guter Flugverbindungen auch Armenien. Bereits vor der Teilmobilmachung sind zahlreiche Russinnen und Russen in das Land gekommen. Im ersten Halbjahr waren es rund 370.000 – und damit mehr als doppelt so viele wie in den ersten sechs Monaten des Vorjahres. Zahlen zu den Geflüchteten wegen der Teilmobilisierung gibt es allerdings auch hier keine. Der russische Botschafter in Finnland meldete hingegen 60.000 Übertritte.

Genaue Fluchtzahlen unklar

Insgesamt ist derzeit unklar, wie viele russische Staatsangehörige das Land aufgrund des Befehls insgesamt verlassen haben. Vor einer Woche war laut der kremlkritischen, verbotenen Zeitung „Nowaja Gaseta“ die Rede von 260.000 Menschen. An rund einem Drittel der 87 Grenzübergänge, zu denen Daten veröffentlicht wurden, sei der Autoverkehr nach der Teilmobilmachung signifikant gestiegen.

Illegale Einberufungen

Auch dort, wo es letztlich zu Einberufungen kommt, soll es grobe Probleme geben. In sozialen Netzwerken, aber auch in russischen Medien werden zahlreiche Fälle über Männer diskutiert, die eingezogen würden, obwohl sie nie gedient hätten, zu krank und alt zum Kämpfen seien oder aus anderen Gründen nicht eingezogen werden dürfen – etwa weil sie Familienväter oder Studenten sind. Der Gouverneur der Region Chabarowsk im äußersten Osten Russlands, Michail Degtjarjow, bestätigte jüngst entsprechende Vorkommnisse.

Hunderte Menschen seien eingezogen worden, obwohl sie nicht den Kriterien entsprachen. Unter anderem seien der Vater eines Kindes mit Behinderung sowie ein an Schizophrenie leidender Mann einberufen worden, berichtete die Zeitung „Kommersant“. Rund die Hälfte der tausend Eingezogenen soll nun in ihre Heimat zurückkehren. Wie es zu den Fehlern kommen konnte, erklärte der Gouverneur nicht. Allerdings scheint der Kreml derartige Vorfälle auf die lokalen Behörden abwälzen zu wollen.

Probleme mit Material

Verdichtet haben sich zuletzt auch Berichte über verheerende Verhältnisse bei Ausbildung und Ausrüstung. Unter anderem soll den Reservisten geraten worden sein, selbst Schlafsäcke und Verbandszeug einzupacken. Der russische Abgeordnete und ehemalige Militär Andrej Guruljow klagte weiters jüngst über 1,5 Millionen „verschwundene“ Winteruniformen.

Zudem kursierten Videos betrunkener Reservisten, die auch in den russischen Medien debattiert wurden. Laut „Kommersant“ verhängten mehrere Regionen Alkoholverbote rund um Sammelpunkte für Mobilisierte und Einberufungsstellen. Für Aufsehen sorgten am Montag auch Medienberichte über eine Massenschlägerei zwischen neu Eingerückten und länger dienenden Zeitsoldaten in einer Basis bei Moskau.

Hinweise auf Probleme bei der Ausbildung der Reservisten sieht indes das britische Verteidigungsministerium. Eingezogene würden sich derzeit übergangsweise in Zeltlagern versammeln, hieß es am Montag in dessen täglichem Kurzbericht. Das deute darauf hin, dass das Militär Schwierigkeiten habe, die Rekrutierten auszubilden und Offiziere für die Führung neuer Einheiten zu finden.

Offene Kritik mehrt sich

Diese Verfehlungen werden laut einem aktuellen Bericht des Institute for the Study of War (ISW) auch zunehmend in den streng kontrollierten russischen Medien diskutiert, die für den Kreml eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung der Kriegsakzeptanz spielen. Man sehe angesichts der chaotischen Teilmobilisierung und der russischen Niederlagen in Lyman und Umgebung „dramatische Veränderungen im russischen Informationsraum“, hieß es von ISW.

Kremlfreundliche Kommentatoren und Militärblogger würden immer offener Russlands Rückschläge betrauern und dabei auch in Verbindung mit „bürokratischem Versagen“ bei der Teilmobilisierung bringen. Auch die Schlagkraft der russischen Reserve werde im Fernsehen hinterfragt. Damit weiche man deutlich vom bisher dominanten Kreml-Narrativ ab, dass die Lage in der Ukraine unter Kontrolle sei. Bemerkenswert ist auch, dass Putin die Pannen bei der Teilmobilisierung vor dem Nationalen Sicherheitsrat rasch öffentlich eingestanden hat.

Expertin: Putins Status bedroht

Dass die Bevölkerung diese Entwicklung am eigenen Leib zu spüren bekommt, könnte jedenfalls zum Problem für den Kreml werden. Putin habe „den Krieg mit dem Versprechen begonnen, dass es keine Reservisten geben würde, die in den Krieg ziehen müssten. Jetzt droht vielen Reservisten der Tod, und das hat zu breit angelegten Protesten in Russland geführt“, so Russland-Expertin Catherine Belton („Putins Netz“) in der ZIB2.

„Putin steht mit Rücken zur Wand“

Die „Washington Post“-Journalistin und Putin-Biografin Catherine Belton analysiert die aktuelle Lage in Russland.

Putins Popularität sei laut offiziellen Zahlen seit der Teilmobilmachung um fünf Prozent gesunken, sein Status bei den Eliten sei bedroht. Zudem zeige sich, dass der Kreml vornehmlich Angehörige von ethnischen Minderheiten in den Krieg schicke, entsprechend seien auch Separatisten eine zunehmende Bedrohung. Putin stehe derzeit „mit dem Rücken zur Wand“ – auch weil die Reservisten schlecht ausgebildet und ausgerüstet seien. Er könne nur hoffen, dass er die besetzten Territorien so lange halten könne, bis die Einheit im Westen bröckelt, so Belton.

Schoigu: 200.000 Menschen eingezogen

Russland teilte indes am Dienstag mit, dass im Zuge der Teilmobilmachung bereits mehr als 200.000 Menschen eingezogen worden seien. „Die Ausbildung erfolgt auf 80 Übungsplätzen und in sechs Ausbildungszentren“, sagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu seinem Ministerium zufolge.

Schoigu sagte, die zuständigen Stellen seien angewiesen worden, den Rekruten die notwendige Kleidung und Ausrüstung zur Verfügung zu stellen und sie einzuweisen. Nach Schoigus Darstellung hätten sich viele Freiwillige gemeldet. Zahlen nannte er nicht. Es sollte niemand abgelehnt werden, „wenn es keine schwerwiegenden Gründe gibt“. Wehrpflichtige, die ihre Dienstzeit beendet haben, sollten zudem nach Hause zurückkehren. Viele von ihnen hatten befürchtet, in die Ukraine geschickt zu werden.