Ausschreitungen bei Demonstration im Iran
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Proteste im Iran

Regime „extrem nervös“

Bei den Protesten im Iran ist kein Ende in Sicht. Das harte Vorgehen des islamischen Regimes, das zahlreiche Menschen das Leben kostete, lässt Erinnerungen an frühere Protestwellen wach werden. Dass die Lage prekärer ist als bei dem Aufstand gegen Mahmud Ahmadinedschad 2009, glaubt der Iran-Experte Walter Posch nicht. „Extrem nervös“ sei die Regierung aber allemal, sagt er zu ORF.at.

Für das Regime, das im Umgang mit Widerstand sehr geübt sei, handle es sich um eine „seriösere Auseinandersetzung“, erklärt Posch. Der Protest sei „in dieser Deutlichkeit“ nicht erwartet worden. Immer wieder würden nämlich neue Gruppen auf die Straßen gehen, so der Experte – Frauen, Männer, Studierende, Schüler und Arbeiter; Menschen unterschiedlicher Alters-, Volks- und Religionsgruppen.

Entzündet hatten sich die Proteste vor gut zwei Wochen: Nachdem die Religionspolizei die 22-jährige Mahsa Amini wegen ihres angeblich „unislamischen Outfits“ festgenommen hatte, fiel die Frau erst ins Koma und starb kurze Zeit später. Die genauen Umstände sind unklar. Die Polizei habe Gewalt angewandt, so die Kritik. Die Polizei weist das entschieden zurück.

Mahsa Amini
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Der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini löste die Proteste aus

Landesweiter Protest gegen islamisches System

Im Iran gehen seither landesweit Tausende Menschen gegen den repressiven Kurs der Regierung und der Sicherheitskräfte sowie das islamische System auf die Straße. Das Regime des obersten Führers des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, und des religiösen Hardliners und Präsidenten Ebrahim Raisi antwortete mit Gewalt und Verhaftungen. Auch der Internetzugang wurde mehrfach blockiert. Mit ähnlichen Methoden konnten im Iran in der Vergangenheit wiederholt Proteste niedergeschlagen werden.

Frauenproteste im Iran vom 1.1.2022 bis 23.9.2022 laut Konfliktbeobachtungsstelle ACLED im zeitlichen Verlauf. Bitte Abspielknopf links drücken und bis zum Schluss warten.

Bisher gelang das der Regierung nicht. Die Unterstützung für die Protestbewegung durch prominente Musiker, Sportler, Filmemacher und Autoren wuchs. Bilder und Videos in sozialen Netzwerken, die Frauen beim Abschneiden ihrer Haare und Ablegen ihrer Hidschabs zeigen, haben auch hierzulande bleibenden Eindruck hinterlassen.

Lange Protestgeschichte

Im Iran, aber auch unter der iranischen Diaspora in vielen anderen Ländern weltweit gibt es die Hoffnung, dass es dieses Mal für einen Neustart reichen könnte. Immer wieder war es in den vergangenen Jahren aus den unterschiedlichsten Gründen zu Protesten gekommen. 2019 starben rund 1.500 Menschen, weil sie gegen hohe Benzinpreise und Misswirtschaft demonstrierten – damals unter Präsident Hassan Rouhani.

2017 folgten zahlreiche Frauen dem Kopftuchprotest der Demonstrantin Wida Mowahed. Wieder kam es zu Demonstrationen gegen die Regierung in Teheran. 2009 demonstrierten Millionen Menschen, weil sie den wiedergewählten Präsidenten Ahmadinedschad des Wahlbetrugs beschuldigten. Dutzende Tote und Massenverhaftungen waren die Folge.

Streitkräfte des Iran

Die Streitkräfte setzen sich aus der regulären Armee und der Armee der Wächter der Islamischen Revolution (Revolutionsgarden) zusammen. Neben der Aufrechterhaltung des politischen Systems seit der Revolution von 1979 ist das Ziel der Revolutionsgarden, „abweichlerische Bewegungen“ zu unterbinden.

Experte ortet „Verschieben der Machtgewichte“

Auf die Frage, wie heikel die aktuelle Situation für das Regime im Vergleich tatsächlich sei, antwortet Posch: „Es ist definitiv gefährlicher als 2019.“ Es gehe zunehmend auch um die „Zukunft der Islamischen Republik“.

Insbesondere bei den Streitkräften scheint einiges im Fluss: Die Revolutionsgarden würden sich aktuell zwar weiterhin um Standardoperationen der inneren Sicherheit kümmern, die reguläre Armee stehe nun aber „viel prominenter“ da als zuvor. Eine genaue Einordnung der Entwicklung sei noch nicht möglich, so Posch.

„Tatsache ist, dass die Islamische Republik auch intern vor einem Verschieben der Machtgewichte steht“, so der Iran-Kenner. Die Machthaber würden das genau beobachten. „Es ist noch nicht so gefährlich, wie es 2009 war, als sich ein Teil der politischen und sicherheitspolitischen Elite diese Protestwelle zunutze machen wollte“, sagt Posch.

Der „Guardian“-Journalist Martin Chulov ist sicher, dass die Hardliner ihre Lehren aus 2009 gezogen haben: „Der Staat verfügt mittlerweile über eines der besten und effizientesten digitalen Sicherheitssysteme in der nahöstlichen Region.“

Der oberste Führer des Iran, Ajatollah Chamenei
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Ali Chamenei ist als oberster Führer seit 1989 das politische und religiöse Oberhaupt des Iran

Experte: „Da ist noch sehr viel möglich“

Laut Iran-Experte Posch hat die Regierung aktuell längst nicht all ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Das Regime könne „noch viel härter sein, da ist noch sehr viel möglich“. Zudem ortet er bei den Demonstrierenden ein großes Problem – ihnen würde es an einer „zentralen Koordinierung“ fehlen. Außerdem hätten sie sich noch nicht auf ein gemeinsames Forderungspaket geeinigt.

Die Machthaber müssten daher auch nicht verhandeln, so Posch. „Gleichwohl sind sie aber extrem nervös, weil die Macht solcher Regime normalerweise darauf beruht, dass sich Gesellschaftsgruppen immer spalten und gegeneinander aufbringen lassen.“

Für den Politologen Ali Fathollah-Nejad, der die These vom „langfristigen revolutionären Prozess“ vertritt, sind die Unruhen laut „Spiegel“ nur ein vorläufiger Höhepunkt des Unmuts, der sich in weiten Teilen der Bevölkerung ausgebreitet hat. Die Menschen würden unter den wirtschaftlichen und politischen Krisen sowie den gravierenden Umweltproblemen wie Wasserknappheit leiden. „Und jetzt wird das System fundamental infrage gestellt“, so Fathollah-Nejad.

Mit dem Hidschab ans „Fundament der Republik“

Mit dem Hidschab – dem Symbol der Proteste – gehe es nach den Worten der Iran-Expertin Sanam Vakil von der Denkfabrik Chatham House „ans Fundament der Islamischen Republik“. Nach der Revolution 1979 propagierten Geistliche islamische Traditionen – an die sich insbesondere Frauen zu halten hatten. Strenge Kleidungsvorschriften waren die Folge.

Iran-Expertin zu den Unruhen

Die Journalistin Solmaz Khorsand, Tochter zweier Exiliraner, verfolgt die Situation iranischer Frauen seit Jahren. Sie sagt, wie die aktuellen Proteste einzuordnen sind.

Dass viele Frauen die Regeln zunehmend locker sahen, stieß erzkonservativen Kreisen sauer auf. „Die Hidschab-Pflicht ist eine der wichtigsten Säulen der Islamischen Republik“, sagt die Journalistin Solmaz Khorsand im Interview mit der ZIB Nacht. Diese sei genauso wichtig wie die Feindschaft gegen die USA und Israel. „Wenn das Regime die Hidschab-Pflicht aussetzen würde, würde sie de facto ihre Identität verlieren.“

Iran schiebt Schuld dem Ausland zu

Wie es um die generelle Stimmung im Land bestellt ist, zeigte sich schon anhand der aufsehenerregenden Wahl Raisis 2021. Die Wahlbeteiligung lag damals angesichts des ausschließlich erzkonservativen Kandidatenfelds bei knapp 50 Prozent. Die geringe Wahlbeteiligung unter den mehr als 59 Millionen Stimmberechtigten wurde von Beobachtern als Wahlboykott und Warnsignal an das gesamte Establishment ausgelegt. Der Wächterrat hatte im Vorfeld des Urnengangs ernsthafte Konkurrenten Raisis aussortiert. Raisi ließ sich von dem stillen Unmut nicht beirren.

Kritik prallt auch dieser Tage an seinem Regime ab. Gemäß der offiziellen Verteidigungslinie soll ohnehin, wie so oft, das Ausland in der Schuld stehen. Der oberste Führer Chamenei stellte die jüngsten Unruhen etwa als Verschwörungsoperation der USA, Israels und der „iranischen Verräter im Ausland“ dar. Chamenei hat laut Verfassung das letzte Wort in allen strategischen Belangen des Iran.

Fachleute dämpfen Hoffnungen

Fachleute äußerten bisher überwiegend Zweifel daran, dass es wirklich zum Fall der Regierung kommen könnte. Prognosen halten die meisten für schwierig. „Vorübergehend jedenfalls befindet sich das Regime in einem schwierigen Fahrwasser. Schließlich ist eine Revolte entfacht, die zumindest andeutet, wie angreifbar und auch zerbrechlich einer der standhaftesten Polizeistaaten der Region sein kann“, so der Journalist Chulov.

Posch glaubt, dass das Regime wieder „Kontrolle und Dominanz“ übernehme. Ihm müsse aber klar sein, dass es gewissen Gruppen – konkret den Kurden und Belutschen – „langsam, aber sicher“ Zugeständnisse machen muss. „Dazu waren sie bisher nicht in der Lage.“ Sehr viele Menschen würden sich zwar wünschen, dass es eine „Revolution im Vorstadium“ ist, sagt die Journalistin Khorsand. „Ich glaube, das ist noch ein bisschen zu früh zu sagen.“

EU-Staaten und USA kündigen Sanktionen an

In Teilen Europas und den USA zeigte man sich unterdessen solidarisch mit den Demonstrierenden. Mehrere EU-Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und Spanien sprachen sich für neue Sanktionen aus. Der Iran warnte die Europäische Union vor „unüberlegten Maßnahmen“ im Zusammenhang mit den anhaltenden Protesten im Land.

Die USA wollen im Laufe der Woche ebenso weitere Strafmaßnahmen verhängen. Washington betonte aber auch die Wichtigkeit von fortgesetzten Verhandlungen zur Wiederbelebung des Atomabkommens mit dem Iran. Seit Monaten wird in Verhandlungen in Wien versucht, das Abkommen wiederzubeleben, zuletzt waren die Verhandlungen aber in eine Sackgasse geraten.