Ukrainischer Raketenwerfer feuert auf russische Stellungen in Donezk
APA/AFP/Anatolii Stepanov
Nach Lyman-Einnahme

Ukraine an zwei Fronten auf dem Vormarsch

Mit der Einnahme von Lyman ist der ukrainischen Armee ein schwerer Schlag gegen den russischen Angreifer gelungen. Selbst in den staatlich kontrollierten russischen Medien wird die Kritik an der militärischen Strategie immer lauter. Gleichzeitig scheint die Ukraine im Osten des Landes ihre Vorstöße rasch fortsetzen zu wollen – mit denselben Methoden, mit denen man zuletzt enorm erfolgreich war. Und auch an der Front im Süden zeichnet sich Bewegung ab.

Die Eroberung der strategisch wichtigen Stadt Lyman im östlichen Gebiet Donezk hatte sich vergangene Woche bereits abgezeichnet. Von 5.000 beinahe eingekesselten Soldaten in der Stadt war die Rede gewesen, Russland ordnete dann den – wenig geordneten – Rückzug an. Internationale Militäranalysten sprechen nun von einem wohlüberlegten und extrem gut durchexerzierten Manöver der Ukraine.

Statt die Stadt direkt anzugreifen, habe man den logistischen Knotenpunkt Sawtowe mit Präzisionswaffen beschossen und damit die Versorgungslinie durchbrochen. So konnten die ukrainischen Truppen die Stadt quasi einschnüren.

Schwachstellen und Logistikknotenpunkte als Ziel

Dabei geht die Ukraine immer nach demselben Muster vor: Es werden Schwachstellen in der gegnerischen Verteidigungslinie gesucht, angegriffen werden logistische Knotenpunkte und vor allem Orte, die für die Bahnverbindungen im Land wichtig sind, so Phillips Payson O’Brien, Professor für Militärstrategie an der schottischen Universität St. Andrews.

Er vermutet, dass die ukrainischen Truppen nun rasch versuchen werden, in die Stadt Kreminna vorzustoßen. Zudem könne Sawtowe eingenommen werden. Sollte dieser Knotenpunkt wieder in die Hand der Ukraine kommen, wäre die Verteidigungslinie entlang des Flusses Oskil nur schwer zu halten, so O’Brien. Die Ukraine könnten aber aus Kreminna auch Richtung Süden vorstoßen und die erst in Juli verlorenen Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk wieder ins Visier nehmen.

Zwei Fronten als russisches Dilemma

Dass die ukrainische Offensive im Osten – beginnend mit den überraschenden Vorstößen in der Region Charkiw vor rund einem Monat – so erfolgreich ist, war auch dem Umstand geschuldet, dass Russland zuvor seine Truppen umgruppiert hatte. Nach den Ankündigungen in Kiew, im Süden eine Offensive zu starten, waren Kampfverbände in die Region Cherson verlagert worden.

Der australische Ex-General und Militärexperte Mick Ryan glaubt, dass Russland der Verteidigung des vor allem wirtschaftlich wichtigeren Südens die Priorität gegeben habe. Allerdings: Der Nordosten sei logistisch für die Versorgung des gesamten Donbas wichtig – und es sei psychologisch ein schwerer Schlag, wenn Separatistengebiete plötzlich wieder in die Hände der Ukraine fallen.

Warum russische Truppen weiterhin ein paar dutzend Kilometer südlich von Lyman die Stadt Bachmut angreifen, kann sich kaum ein westlicher Militäranalyst erklären. Zudem gibt es dabei seit Wochen keinerlei Fortschritte.

Ukrainische Vorstöße auch im Süden

Mittlerweile stelle sich das Dilemma aber an beiden Fronten, weil die Ukraine offenbar auch im Süden mehr und mehr Fortschritte macht. Laut übereinstimmenden Berichten eroberten ukrainische Truppen Orte am Westufer des Kachowkaer Stausees zurück und stoßen entlang des Ufers des Dnipro Richtung Südwesten vor. Mittlerweile wurde das 20 Kilometer entfernte Dorf Dudtschany eingenommen. Mit einem weiteren Vorstoß weiter im Westen droht laut Beobachtern den russischen Truppen auch hier eine Einkesselung.

Karte zeigt militärische Lage in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW

Zudem hatte die Ukraine schon zuvor praktisch alle Verbindungen über den Dnipro zerstört – und den russischen Truppen nördlich des Flusses sowohl Nachschub- als auch Fluchtrouten praktisch genommen. Ähnlich rasche Erfolge wie im Nordosten werden zwar nicht erwartet, aber auch hier im Süden scheint die ukrainische Armee das Heft des Handelns in der Hand zu haben. Die ukrainische Armee hält sich im Süden mit genauen Lageberichten weiter zurück, die meisten Informationen stammen von russischen Militärbloggern.

Fehlende Ausrüstung für Wintermonate?

Dass sich an der ernsten Lage in der russischen Armee durch die Teilmobilmachung rasch etwas ändern wird, bezweifeln praktisch alle westlichen Beobachter: Er werde Monate dauern, bis die neuen Rekruten einsatzbereit zur Verfügung stünden, hieß es schon zu dem Zeitpunkt, als der russische Präsident Wladimir Putin die Mobilisierung verkündete. Mehr als 200.000 Menschen seien eingezogen worden, sagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Dienstag. Doch ein großes Fragezeichen ist dabei nicht nur die Ausbildung und Moral der neuen Kämpfer, sondern vor allem ihre Ausrüstung.

Und kaum jemand kann abschätzen, wie gut gerüstet die russische Armee für die kommenden Wintermonate ist. Der Duma-Abgeordnete und ehemals hochrangige Militär Andrej Guruljow wurde zuletzt mit Aussagen zitiert, die Armee wisse nichts vom Verbleib von 1,5 Millionen Winteruniformen. Niemand könne ihm erklären, wo die Uniformen seien, sagte Guruljow laut der Website der in Russland mittlerweile verbotenen Zeitung „Nowaja Gaseta“.

Hardliner werden immer lauter

Gleichzeitig meinen westliche Beobachter deutliche Verschiebungen in der öffentlichen Debatte in Russland wahrzunehmen. In den staatlich kontrollierten Medien werden mittlerweile Meinungen offen kundgetan, die bis vor Kurzem nur auf den Telegram-Channels von Militärbloggern zu lesen und hören gewesen seien. Allen voran der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow und der Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin – bekannt als „Putins Koch“ und seit Kurzem als Gründer der berüchtigten Söldnertruppe „Wagner“ identifiziert – schossen sich auf die Militärführung ein.

Sie machen General Alexander Lapin für die Schlappe im Osten verantwortlich und werfen gleichzeitig Armeechef Waleri Gerassimow vor, Lapin zu decken. Kadyrow wie Prigoschin fordern größere militärische Anstrengungen bis hin zum Einsatz von „Atomwaffen mit geringer Sprengkraft“. Der US-Thinktank Institute for the Study of War spekuliert indes, wie lange sich Putin solche Äußerungen noch gefallen lässt.

Putin-Biografin über Lyman-Einnahme

Die „Washington Post“-Journalisitin und Putin-Biografin Catherine Belton spricht darüber, dass nach der völkerrechtswidrigen Annexion von vier ukrainischen Gebieten durch Russland die ukrainische Armee die strategisch wichtige Stadt Lyman zurückerobert hat. Außerdem analysiert sie, wie nach der Teilmobilisierung die Popularität Putins schwindet.

Alles erst der Anfang?

Russland-Kenner und internationale Analysten sprachen zuletzt sogar von Spekulationen, die Russische Föderation könnte demnächst einen noch größeren Schock erleben. Das können einerseits auch absichtlich gestreute Gerüchte sein, andererseits gibt es auch Anzeichen, dass tatsächlich Dinge ins Wanken geraten. Was passieren könnte, darüber will kaum jemand spekulieren.

Doch gemutmaßt wird von einem Bröckeln von Putins Machtbasis in Moskau bis dazu, dass die eine oder andere russische Republik die derzeitige Lage nutzen könnte, separatistische Versuche zu lancieren. Im Zuge der Teilmobilmachung gab es in einigen Landesteilen, etwa in Dagestan, bereits Aufruhr. Und dass ethnische Minderheiten im Land verstärkt rekrutiert wurden, könnte da oder dort das Fass zum Überlaufen gebracht haben.