Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq
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Literaturnobelpreis

Wetten gegen unberechenbare Jury

Jährlich vor der Vergabe des Literaturnobelpreises beginnt eine der spannendsten Zeiten des Literaturjahres: Ein kollektives Rätselraten setzt ein, das Buchmacher in Wettquoten gießen. Oftmals ist das Ergebnis ernüchternd – das hat auch damit zu tun, dass sich die Jury stets unberechenbar gab, nicht erst seit ihrer Neuerfindung nach dem Skandal 2018.

Er hat alle wichtigen Preise in seiner Literatursprache gewonnen, jedes seiner Bücher wird zum medialen Ereignis – oder zu einem solchen hochgekocht –, und seit „Vernichten“ gibt er sich als versöhnlichen, spätbekehrten Romantiker: Die Zeiten des Michel Houellebecq als „Enfant terrible“ sind vorbei, das zeigt sich auch in den Wettquoten, die ihn als eindeutigen Favoriten für die Nobelpreisverkündung am Donnerstag ausmachen.

Allerdings: Nicht wenige Kritiker haben in den vergangenen Jahren Houellebecqs Stil bemängelt, von den Kontroversen über seine als frauen- und islamfeindlich gelesenen Werke wie „Ausweitung der Kampfzone“, „Plattform“ und – abgemildert – „Unterwerfung“ einmal abgesehen.

Portrait des britischen Schriftstellers Salman Rushdie
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Ein Symbol für die Meinungsfreiheit: Aber ist das Wahlprozedere auf Salman Rushdies Seite?

„Ideal“ und Politik

Ursprünglich sollte der Preis laut dem Testament des Stifters Alfred Nobel für „die herausragendste Arbeit in idealer Richtung“ im Feld der Literatur vergeben werden – das schloss auch essayistische und wissenschaftliche Prosa ein, womit etwa die Preisvergabe an den französischen Philosophen Henri Bergson 1929, den britischen Philosophen Bertrand Russell 1950, dessen Landsmann, den Politiker und Historiker Winston Churchill, drei Jahre später und in jüngerer Zeit von Swetlana Alexijewitsch durchaus in das Aufgabenfeld des Preises passte.

Diese idealistische Ausrichtung, die durchaus politisch grundiert ist, spricht jedenfalls gegen Kandidatinnen und Kandidaten, die im engeren Sinne rein literarische Prominenz genießen – was Houellebecq eher unwahrscheinlich macht. Dass die aktuell laut Statuten aus fünf Mitgliedern aus dem Kreis der Schwedischen Akademie bestehende Jury aber immer wieder geneigt ist, die politische Symbolwirkung des Preises für eine rein ästhetische Auffassung aufzugeben, bewies die Wahl von Peter Handke vor drei Jahren nachdrücklich.

Rushdie und das Prozedere

Wollte man einen Kandidaten mit großer Symbolkraft, wäre es wohl Salman Rushdie, der seit dem auf ihn verübten Attentat im August wieder zur internationalen Verkörperung der Meinungsfreiheit geworden ist – ein Status, der davor schon verblasst gewesen war. Dass seine Wettquoten zwar gut sind, er aber keine der vordersten Platzierungen einnimmt, hat mehrere Gründe. Seine letzten Romane „Quichotte“ und „Golden House“, die sich mit Medienkritik, öffentlicher Meinung und Starkult auseinandersetzten, ernteten durchwachsene Kritiken.

Das Prozedere des Nobelpreises sieht vor, dass dazu eingeladene Fachpersonen – Professorinnen und Professoren für Literatur und Linguistik, Mitglieder der Schwedischen Akademie, ehemalige Literaturnobelpreisträgerinnen – bis zum Februar des Vergabejahres Kandidatinnen und Kandidatinnen vorschlagen dürfen. Bis zum Mai wird eine geheime Shortlist aus fünf Autorinnen und Autoren erstellt, aus denen gewählt wird – ob Rushdie vor dem Attentat auf dieser Liste stand, ist fraglich.

Angesagte Überraschung gesucht

Zudem geht der Trend zu kleineren Sprachen, Autorinnen und Literaturen außerhalb Europas und Amerikas – ein notwendiges Korrektiv zu den vornehmlich männlichen und europäischen Preisträgern der Preisgeschichte: „Wir hatten in der Vergangenheit eine eurozentrische Perspektive auf die Literatur, jetzt sehen wir uns die ganze Welt an“, hatte Anders Olsson, der Vorsitzende des Nobelpreiskomitees, vor der Entscheidung für die Jahre 2018 und 2019 angekündigt.

Damals überschattete ein großer Skandal um die sexuellen Übergriffe eines Jurymitglieds, die zu einer Aussetzung der Vergabe 2018 führten, das Ansehen des Preises. 2020 gewann daraufhin die eher unbekannte US-Lyrikerin Louise Glück und letztes Jahr der in Sansibar (heute Teil Tansanias) geborene Abdulrazak Gurnah.

Französische Schriftstellerin Annie Ernaux
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Ausgeprägte Zeitgenossinnenschaft: Annie Ernaux hat gute Chancen, als erst 17. Frau den Literaturnobelpreis zu gewinnen

Die Wettquoten folgen diesem Trend auf unterschiedliche Weise: Annie Ernaux, durchgehend unter den ersten fünf Platzierten, erlebt in den letzten Jahren weltweite Übersetzungen und begeisterte Reaktionen für ihre auf Französisch schon länger vorliegenden Romane, ihre autofiktionale Beschäftigung mit Geschlechter- und Klassenverhältnissen trifft einen Nerv der Zeit, wie auch der Goldene Löwe für die Verfilmung ihres Abtreibungsromans „Das Ereignis“ bei den Filmfestspielen in Venedig letztes Jahr bewies.

U.S. Musiker Bob Dylan
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Auch ewige Kandidaten siegen manchmal: Bob Dylan, Literaturnobelpreisträger 2016

Weniger ausgeprägte Zeitgenossinnenschaft als die Weiterentwicklung literarischer Formen bringt die kanadische Lyrikerin Anne Carson in Spitzenpositionen der Buchmacher, bei den meisten liegt sie hinter Houellebecq auf Platz zwei. Stets schwer haben es Kandidaten, die seit Jahren auf den Listen stehen – von den gut platzierten wie dem syrischen Lyriker Adonis und dem kenianischen Autor Ngugi Wa Thiongo über Namen, die Jahr für Jahr immer schlechtere Quoten beigemessen bekommen, wie der japanische Kultautor Haruki Murakami, Maryse Conde aus Guadeloupe, der Ungar Peter Nadas und der Rumäne Mircea Cartarescu. Aber schließlich war auch Bob Dylan, eine der größten Nobelpreis-Überraschungen der vergangenen Jahrzehnte, ein langjähriger Kandidat, an den im Vorfeld niemand so recht glauben wollte.