SSC-8/9M729 Cruise Missile
Reuters/Maxim Shemetov
Taktische Atomwaffen

Riskante Option auch für Russland

Russland droht im Ukraine-Krieg weiter mit einem Atomwaffeneinsatz. Zuletzt sagte Präsident Wladimir Putin, er werde auf „alle Mittel“ zurückgreifen, sollte die „territoriale Integrität“ seines Landes bedroht sein. Mit dieser offenen Formulierung heizte er die Angst vor einer nuklearen Eskalation wieder an. Doch der Einsatz von Kernwaffen wäre auch für Russland eine riskante Option.

Derzeit halten viele Fachleute das Risiko eines russischen Atomschlages für niedrig – es steige aber mit dem militärischen und politischen Druck, unter dem Russland sich befinde. Sollte es zum Äußersten kommen, wird die Nutzung einer oder mehrerer taktischer Atomwaffen als am wahrscheinlichsten erachtet. Diese sind auf ein bestimmtes Areal und für eine begrenzte Wirkung auf dem Schlachtfeld ausgelegt – im Gegensatz zu strategischen Atomwaffen, die nicht auf dem Gefechtsfeld eingesetzt werden, sondern Ziele im gegnerischen Hinterland zerstören sollen.

Allerdings darf die Bezeichnung nicht täuschen: Auch taktische Nuklearwaffen richten verheerende Schäden und Verstrahlungen an, viele besitzen eine größere Sprengkraft als jene Bombe, die 1945 über Hiroshima abgeworfen wurde. Bisher kamen taktische Atomwaffen noch nie zum Einsatz.

„Geeigneter für Terror und Einschüchterung als für Einsatz“

Die USA haben ihre Arsenale an taktischen Atomwaffen in der Vergangenheit reduziert, da sie die Wirkung konventioneller Waffen als ausreichend einschätzen. Russland hingegen soll noch 2.000 taktische Nuklearsprengköpfe besitzen. Das Land entdecke aber derzeit, dass diese „schwer einzuschätzen, noch schwieriger zu kontrollieren und wesentlich geeigneter für Terror und Einschüchterung als für den Kriegseinsatz sind“, so die „New York Times“ („NYT“) unter Berufung auf US-Militärs.

Ein Einsatz dieser Waffen könnte demnach vor allem Teil eines letzten Versuchs sein, die ukrainische Gegenoffensive zu stoppen, indem man droht, Teile der Ukraine unbewohnbar zu machen. Laut „NYT“ würden US-Militär, Geheimdienste und Institute daher seit Monaten versuchen, die möglichen Konsequenzen eines solchen Einsatzes zu kalkulieren.

Flexible Einsatzmöglichkeiten

Hier gebe es allerdings viele Unwägbarkeiten – denn taktische Nuklearwaffen variieren nicht nur stark in der Sprengkraft, sie sind auch sehr flexibel einsetzbar. Die Sprengkörper können auf verschiedenen Arten von Raketen angebracht werden, die normalerweise verwendet werden, um konventionelle Sprengstoffe zu transportieren – wie Marschflugkörper und Artilleriegeschoße. Auch ein Abschuss von Schiffen und vom Fluggerät aus ist möglich.

Fachleute hielten zuletzt mehrere Einsatzszenarien für plausibel. Bei einem demonstrativen Schlag könnte die Waffe im Untergrund, über dem Schwarzen Meer, in großer Höhe in ukrainischem Luftraum gezündet werden. Auch das hätte schwere Konsequenzen: Bei einer Luftdetonation etwa entstehe ein nuklearer elektromagnetischer Impuls, der zu schweren Schäden bei elektronischen Systemen, vergleichbar mit einem Blackout, führen könne.

Radioaktive Verstrahlung würde auch in diesem Szenario zum langanhaltenden Problem. Und das nicht nur für die Ukraine: Je nach Wind könnte die durch den Atomschlag freigesetzte Strahlung auch russisches Territorium treffen. Zudem könnte bereits ein solcher Einsatz dazu führen, dass sich Russland international endgültig selbst isoliert. Auch Indien, China und andere Staaten stünden unter großem Druck, sich Strafmaßnahmen gegen Russland anzuschließen. In beiden Fällen könnten die Konsequenzen für Russland gravierender sein als der Nutzen.

Frage nach NATO-Reaktion bei Einsatz in Ukraine

In einer weiteren Eskalationsstufe könnten eine ukrainische Militärbasis, wichtige Infrastruktur oder gar eine Stadt zum Ziel erklärt werden. Entscheidend: Ein solcher Fall würde Russland zwar international weiter diskreditieren, aber wohl keinen EU-Einsatz und auch keinen NATO-Bündnisfall auslösen. „Eine militärische Antwort halte ich für ausgeschlossen, solange ein solcher Einsatz auf das ukrainische Territorium beschränkt bliebe“, so der Leiter des Militärausschusses der EU (EUMC), Robert Brieger, zum „Kurier“ (Sonntag-Ausgabe).

Der ehemalige Viersternegeneral und CIA-Direktor David Petraeus spekulierte hingegen am Montag, dass bei einem Ausbreiten von Radioaktivität auf das Gebiet der NATO auch die Beistandspflicht schlagend werden könnte. Eine dritte – und die höchste – Eskaltionsstufe wäre ein Atomwaffenangriff nicht in der Ukraine, sondern auf einen NATO-Partner.

„Massives Glücksspiel“

Laut Jake Sullivan, US-Präsident Joe Bidens wichtigster Berater in Fragen der Nationalen Sicherheit, hätte ein russischer Atomschlag „katastrophale Konsequenzen“ für das Land. Das habe man Moskau auch klar dargelegt. Ähnliche Worte kamen am Sonntag von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Petraeus sprach in diesem Zusammenhang davon, dass die russischen Truppen und ihre Ausrüstung zerstört würden, ebenso die russische Schwarzmeer-Flotte.

Das Institute for the Study of War kam vergangene Woche zu dem Schluss, dass ein russischer Nukleareinsatz „ein massives Glücksspiel um begrenzte Gewinne wäre, mit dem Putin seine erklärten Kriegsziele nicht erreichen kann. Im besten Fall würde der russische Nukleareinsatz die Frontlinien in ihrer aktuellen Position einfrieren und es dem Kreml ermöglichen, sein derzeit besetztes Territorium in der Ukraine zu bewahren.“

Verlegung von Waffen würde auffallen

Atomwaffenexperte James Acton von Carnegie Endowment betonte zuletzt auch, dass die Vorbereitung eines Einsatzes taktischer Atomwaffen von den internationalen Geheimdiensten wohl nicht unbemerkt bliebe. Zum Beispiel würde eine Verlegung von Sprengkörpern aus ihren Lagerstätten zu Raketensystemen auffallen, so Acton.

Bisher seien keine ungewöhnlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Moskauer Atomwaffenarsenal festgestellt worden, sagte ein westlicher Regierungsvertreter, der anonym bleiben wollte, zu Reportern. „Wir haben keine Indikatoren oder Aktivitäten gesehen, die aus unserer Sicht außerhalb der Norm liegen würden. Wir haben keine Aktivitäten gesehen, die über das übliche Maß hinausgehen.“

Nervosität wegen U-Boot-Verlegung

Allerdings sorgten am Dienstag Berichte über ein „verschwundenes“ russisches Atom-U-Boot für Aufsehen. Laut der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ soll die NATO ihre Mitglieder alarmiert haben, weil die „Belgorod“ aus ihrem nordrussischen Hafen ausgelaufen ist. Das U-Boot soll mit einer Atombombe bestückt sein, die in Richtung einer Küstenstadt abgefeuert werden kann. Rund 1.000 Meter unter dem Meer werde die Bombe dann unbemerkt zur Explosion gebracht, um einen verheerenden Tsunami auszulösen.

Möglich schien es, dass das U-Boot zu einem Test aufgebrochen ist. Von einer Einsatzbereitschaft gingen westliche Fachleute erst ab 2027 aus. Die NATO wollte den Bericht nicht kommentieren. „Wir geben keinen Kommentar zu vermeintlichen Informationsleaks oder Geheimdienstdetails ab“, sagte ein NATO-Sprecher am Dienstag der Nachrichtenagentur ANSA in Brüssel.

„Nukleare Rhetorik“

Weitere Berichte über einen mutmaßlichen Atomwaffentransport per Zug an die ukrainische Grenze sowie einen möglichen Atomwaffentest wurden von mehreren Fachleuten und ungenannten US-Behördenvertretern zurückgewiesen. Sie machen aber die Nervosität und die doppelbödige Kommunikation Russlands ersichtlich. Denn der Kreml kritisierte angesichts der Berichte postwendend eine „nukleare Rhetorik des Westens“, an der sich Russland „nicht beteiligen“ wolle.