Schriftstellerin Annie Ernaux
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Verkündung

Literaturnobelpreis für Annie Ernaux

Der Literaturnobelpreis geht dieses Jahr an eine Favoritin. Die französische Autorin Annie Ernaux wird für ihr ambitioniertes autofiktionales Projekt ausgezeichnet, das die Grenzen zwischen eigenem Leben und Fiktion verschwimmen lässt.

Seit Jahren empfiehlt sie sich als Kandidatin: Die 1940 in der Normandie geborene Ernaux hat mit ihrem über Jahrzehnte betriebenen Projekt einer Vermessung ihrer Herkunft und ihres Lebens in einer Serie von Romanen den Begriff der Autofiktionalität geprägt.

Die Wahl gab die für die renommierte Auszeichnung zuständige Schwedische Akademie am Donnerstag in der Altstadt von Stockholm bekannt. Ernaux bekomme den Preis „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt“, sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Preisbekanntgabe. Man habe sie telefonisch noch nicht erreichen können, so Malm.

Entscheidung für Neuerung im Literarischen

Damit ist die Entscheidung dezidiert für eine Autorin gefallen, deren Rang und deren erneuernde Kraft für die Gegenwartsliteratur unbestritten sind. Autobiografisches Schreiben, besonders von Autorinnen, hatte unabhängig von Auflagenzahlen lange Zeit einen schweren Stand sowohl innerhalb der akademischen Welt als auch bei der Kritik.

Portrait von der Schriftstellerin Annie Ernaux aus dem Jahr 1984
APA/AFP/Pierre Guillaud
Ernaux beim Erscheinen von „La Place“, 1983

Ernaux hat diese Dünkel im Alleingang beseitigt, wenn auch zunächst auf leisen Sohlen. Als sie im Schatten eines Alain Robbe-Grillet, Michel Butor und Claude Simon zu schreiben begann, war die Sehnsucht nach Klarheit, Direktheit und Minimalismus groß. Mit „Der Platz“ („La Place“) lieferte sie Mitte 1983 ein Werk ab, das seinesgleichen sucht.

Darin seziert sie ausgehend von der Erinnerung an den Tod ihres Vaters ihre kleinbürgerliche Herkunft, vermisst rückwirkend den sozialen „Platz“, der ihr durch die Geburt zugeteilt wurde, und welche Möglichkeiten ihr dadurch offenstanden oder eben verschlossen blieben. „Mir ist das Prinzip der Fiktion immer fremd geblieben“, meinte Ernaux rückblickend auf „Der Platz“ und fügte hinzu: „Die Realität ist so ein außergewöhnliches Feld und das gelebte Leben eine letztlich so enorme Größe.“

„Ethnologin ihrer selbst“

Im Erzählen reflektiert Ernaux die Grenzen der Erinnerung mit – und damit den Anteil des Erzählten, der notgedrungen mit Fiktion aufgefüllt wird. Gerade diese Doppelung ist das Neue und Einflussreiche ihres Schreibens – und trennt ihre Autofiktion von klassischen autobiografischen Ansätzen. Wegen dieses Zugangs bezeichnet sich Ernaux auch als „Ethnologin ihrer selbst“ – und tatsächlich hat die Lektüre ihrer Werke auch Impulse gegeben. Der mit der soziologische Beschreibung seiner Kindheit, „Rückkehr nach Reims“, auch im deutschen Sprachraum berühmt gewordene Didier Eribon bezieht sich häufig auf Ernaux als Inspiration.

Katja Gasser (ORF) zum Literaturnobelpreis

Der Literaturnobelpreis wurde an Annie Ernaux vergeben. Katja Gasser analysiert die Bedeutung dieser Entscheidung.

Ihren Zugang breitet Ernaux seit den 1970er Jahren konsequent aus: In Romanen wie „Die Scham“, „Erinnerungen eines Mädchens“ und „Die Jahre“ – der bei der Verkündung des Nobelpreises explizit als „erste kollektive Biografie“ gewürdigt und auf die technische Höhe von Marcel Proust gehoben wurde – verarbeitet sie Aspekte ihres Lebens und der Leben ihrer Familienmitglieder.

Mit „Eine Frau“ („Une femme“, 1987) schrieb Ernaux ein Requiem auf ihre Mutter, die ihr das Studium der Literatur ermöglichte, in „Die Scham“ („La honete“, 1997) rekonstruierte sie anhand eines Fotos die teils gewalttätige Beziehung ihrer Eltern und ihre Jugend, in „Das andere Mädchen“ („L’autre fille“, 2011) erzählte sie, wie sie bei einem Gespräch zwischen ihrer Mutter und ihrer Nachbarin 1950 erfuhr, dass sie eine Schwester hatte, die vor ihrer Geburt gestorben war.

„Erinnerungen eines Mädchens“ („Memoire de fille“, 2016) spürte mit Genauigkeit ihrer ersten sexuellen Begegnung nach – und erzählte von Macht, Ohnmacht und Unterwerfung. Bereits „Die Jahre“ („Les annees“, 2008) las sich wie die Summe ihres Werkes – eine Erkundung ihres Lebens von der Nachkriegskindheit über ihr Studium, ihre turbulente Ehe und Mutterschaft bis zum Altern in den Nullerjahren, die zugleich eine breites Panorama auf die französische Gesellschaft lieferte. Ernaux’ Romane sind eine Tiefenbohrung in ein einzelnes Leben, die Schlüsse ins Allgemeine eröffnet.

Zunehmend weltweit übersetzt, treffen ihre präzisen wie poetischen Analysen von Geschlechter- und Klassenverhältnissen einen Nerv der Gegenwart, wie auch der Goldene Löwe für die Verfilmung ihres Abtreibungsromans „Das Ereignis“ („L’evenement“, 2000) von Regisseurin Audrey Diwan bei den Filmfestspielen in Venedig letztes Jahr bewies.

Turbulenzen in den Vorjahren

In den Jahren zuvor hatte es heftige Turbulenzen um den Preis gegeben: 2019 wurde die Auszeichnung von Peter Handke höchst kontroversiell diskutiert, 2018 setzte das Komitee die Vergabe aus, nachdem es zum großen Skandal um die sexuellen Übergriffe eines Jurymitglieds gekommen war. Der Preis für 2018 wurde erst 2019 verliehen und Olga Tokarczuk zugesprochen.

Verliehen wird die mit zehn Millionen schwedischen Kronen (rund 920.000 Euro) dotierte Auszeichnung mit den übrigen Nobelpreisen am 10. Dezember. Das Datum ist als Todestag von Alfred Nobel fix gesetzt. Pandemiebedingt wird der Preis neuerlich in den Heimatländern der Preisträgerinnen und Preisträger und nicht bei einer Zeremonie in Stockholm übergeben.