Glasfaserkabel
IMAGO/Gustavo Alabiso
Für Netflix, Google und Co.

Provider drohen Netzriesen mit Datenmaut

Wer die neueste Serie streamen will, braucht einen Internetzugang und bezahlt dafür einen Provider für benötigtes Datenvolumen und Geschwindigkeit. In der Pandemie ist der Datenverkehr jedoch enorm gestiegen – für Netzbetreiber sind Firmen wie Netflix, Google und Co. daran schuld. Geht es nach ihnen, sollen die Großkonzerne künftig für den nötigen Ausbau der Netze mitzahlen. Die EU zeigt sich offen für die Idee, doch das Unterfangen ist heikel, warnen Netzaktivisten.

Es wäre eine Regelung, die das gesamte Internet auf den Kopf stellen würde – zumindest hinter den Kulissen. Denn jahrzehntelang wurde nicht an diesem Grundpfeiler des Netzes gerüttelt: Schon seit jeher zahlten Kundinnen und Kunden für den von ihnen verursachten Datenverkehr – und eben nicht die Betreiber der aufgerufenen Websites.

Freilich hat sich das Internet in dieser Zeit deutlich verändert. Alleine in den letzten zehn Jahren gewann das Netz noch einmal an Bedeutung – waren 2011 noch 72 Prozent der EU-Haushalte ans Netz angeschlossen, waren es letztes Jahr 92 Prozent, der Datenverkehr hat sich seit 2001 rund versiebzigfacht. Und das Internet ist bewegter denn je: Videoplattformen wie YouTube und Netflix erfreuen sich enormer Beliebtheit.

Sechs Unternehmen als häufigste Ziele im Netz

Das ist mit dem Transfer von enormen Datenmengen verbunden, die in der Pandemie noch zugenommen haben. Verantwortlich sind aus Sicht der Telekomunternehmen aber nicht ihre Kunden, sondern vor allem einige wenige große Player: Über die Hälfte des Datenverkehrs führt laut dem Telekomverband ETNO zu Amazon, Apple, Facebook, Google, Microsoft und Netflix. Zählt man den entstandenen Datenverkehr durch Computerspiele hinzu, erhöhe sich der Anteil auf rund 80 Prozent, so der Verband. Deshalb fordern die Telekomanbieter von diesen Diensten nun einen Beitrag, um den eigenen Netzausbau, etwa für den neuen Mobilfunkstandard 5G, finanzieren zu können.

Leere Kabel auf Baustelle
APA/dpa/Patrick Pleul
Der Ausbau des Netzes soll nach Wunsch der Telekomunternehmen auch von Google und Co. finanziert werden

Prinzipiell offen zeigt sich dafür die EU-Kommission. Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager und Binnenmarktkommissar Thierry Breton, früher selbst Telekomchef in Frankreich, sehen im Hinblick auf die Netzgiganten zumindest Prüfungsbedarf. Vestager sagte im Mai etwa, dass es Player gebe, „die viel Datenverkehr erzeugen, der ihr Geschäft ermöglicht, die aber umgekehrt nicht dazu beitragen, diesen Verkehr zu bewerkstelligen“.

Netzriesen und Aktivisten gegen Telekomvorstoß

Kritik daran kommt aus komplett unterschiedlichen Lagern: Nicht nur Google und Co. sind naturgemäß gegen den Vorstoß – auch Netzaktivistinnen und -aktivisten, die sonst tendenziell die EU und deren Pläne zur Einschränkung der Netzriesen unterstützen, können nichts mit den Plänen der Telekomunternehmen anfangen. Im Gespräch mit ORF.at sieht Thomas Lohninger von der NGO epicenter.works eine Gefahr für die Netzneutralität und übt Kritik an den Telekomanbietern.

Schließlich würden Kundinnen und Kunden ja nicht „für das Netz, sondern für den Zugang zu den Diensten“ zahlen, so Lohninger. Die Netzneutralität schreibt vor, dass dabei kein Dienst bevorzugt behandelt werden darf. Doch genau das könnte eine „Datenmaut“ für große Dienste wie YouTube und Netflix begünstigen. Plötzlich würden nicht mehr allein die Internetnutzer dafür zahlen, Dienste zu erreichen – stattdessen müssten die Onlinedienste zusätzlich zahlen, um Inhalte an ihre User ausliefern zu können, so die Befürchtung.

Abgeordnete fürchten Rückkehr zur Telefonära

In einem fraktionsübergreifenden offenen Brief von Mitgliedern des EU-Parlaments befürchtet man eine Rückkehr zum Zeitalter des Telefons. „Telefonanbieter hatten ein Monopol über ihre Kunden, deswegen konnten sie exorbitante Preise dafür verlangen, ihre Kunden zu erreichen“, heißt es darin. Internetprovidern zu „erlauben, Anbieter von Inhalten zur Kasse zu bieten, könnte der Netzwirtschaft erheblichen Schaden zufügen“, so die Abgeordneten weiter. Von den Netzpolitikaktivisten heißt es darüber hinaus, dass damit die Macht der Internetriesen nur noch mehr zementiert werden könnte – sobald Geld eine Rolle spielt, würde das vor allem kleine, und damit oft auch europäische, Konkurrenten benachteiligen.

Die großen Technologiekonzerne selbst verweisen unterdessen darauf, dass sie ohnehin einen Beitrag zur Netzinfrastruktur leisteten, indem sie etwa Rechenzentren bauen. Und: Netflix betreibt zahlreiche eigene Server, die bei Internetprovidern untergebracht werden, um den tatsächlich entstanden Datentransit für Provider möglichst gering zu halten. Nicht zuletzt die Telekombranche selbst ist uneins: Zwar ist ETNO, als Verband der größten Telekombetreiber, für eine Änderung – die European Competitive Telecommunications Association (ECTA), die vor allem kleinere Konkurrenten der Branche vertritt, sprach sich hingegen für eine Beibehaltung der derzeitigen EU-Regeln aus.

Regulierung bei Ausbau größeres Thema als Geld

Lohninger glaubt unterdessen auch nicht, dass Zahlungen der Netzriesen den Ausbau von Netzen maßgeblich beschleunigen würden. „Es mangelt an anderen Faktoren“, so Lohninger, der etwa die mangelnden Tiefbaukapazitäten beim Verlegen der Glasfaserkabel als Grund für den schleppenden Ausbau nennt. Außerdem seien die Genehmigungsverfahren ein weiterer Hemmschuh beim Ausbau. Von Kritikern wird auch befürchtet, dass Zahlungen an Internetprovider „kein Mascherl“ hätten, also nicht zweckgebunden in die Infrastruktur gesteckt werden würden – und damit die Provider letztlich einfach nur auf beiden Seiten der Leitung zur Kasse böten.

Die Diskussion ist dabei gar nicht neu – schon vor zehn Jahren gab es eine ähnliche Forderung von den Telekomkonzernen. Damals kamen die europäischen Netzregulierungsbehörden (BEREC) zum Schluss, dass eine Änderung zu einem Missbrauch der Marktmacht der Telekomunternehmen führen könnte. Außerdem würden beide Seiten bereits für den Zugang zum Internet bezahlen. Es gebe „keinen Beweis, dass die Netzwerkkosten der Betreiber nicht schon vollständig in der Netzwertschöpfungskette abgedeckt sind“.

„Squid Game“ heizte Diskussion in Südkorea an

Und auch außerhalb Europas wurde diskutiert: Prominentestes Beispiel ist dabei Südkorea, wo die Netflix-Serie „Squid Game“ dazu geführt hatte, dass ein Internetprovider Netflix zur Hilfe beim Zahlen des Datenverkehrs aufforderte – und letztlich Recht bekam. Der deutsche Verbraucherzentrale Bundesverband sieht das Land dabei als „Negativbeispiel“: Seither hätten Streamingdienste etwa die Qualität reduziert, manche hätten sich ganz vom südkoreanischen Markt zurückgezogen.

Solche Beispiele werden Skeptiker im Hinblick auf die Netzneutralität nicht beruhigen. Auf Anfrage von ORF.at bei der EU-Kommission sowie beim Telekomverband ETNO sieht man unterdessen kein Problem mit der Vereinbarkeit. Wegen der bestehenden EU-Regeln zum offenen Internet „werden Nutzer weiterhin alle Inhalte und Applikationen im Internet abrufen können. Ein fairer Beitrag von einigen wenigen großen Erzeugern von Datenverkehr würde ihnen keine Priorität im Netz geben, aber einen proportionalen Beitrag zu den entstanden Netzwerkkosten leisten“, heißt es in einem Statement von ETNO.

Von der Kommission heißt es, dass sie „keine Pläne haben, die Bestimmungen über das offene Internet wieder zu öffnen. Das ist ganz klar.“ Für Internetprovider „wäre es nicht möglich, den Verkehr aufgrund von Zahlungen bevorzugt oder aufgrund fehlender Zahlungen von Inhaltsanbietern weniger bevorzugt zu behandeln“, so die Kommission in ihrer Stellungnahme.

Regulierungsbehörden mit zahlreichen Einwänden

Ende September hat die Debatte neuerlich Fahrt aufgenommen, es wurde erwartet, dass die Kommission schon bald mit einem Vorschlag aufwarten werde. Einen Dämpfer gab es aber diese Woche: Einmal mehr meldeten sich die Netzregulatoren zu Wort. In einer ersten Einschätzung heißt es, dass die einstige BEREC-Einschätzung „im Jahr 2022 genauso standhält wie 2012“. Datenverkehr werde von den Nutzerinnen und Nutzern „verursacht“, die tatsächlichen Kosten, um mit diesen Datenmengen umgehen zu können, seien „sehr niedrig“ im Vergleich zu den Gesamtkosten für den Netzausbau.

Laut einem „Financial Times“-Bericht drücken vor allem Frankreich, Italien und Spanien aufs Tempo – allesamt Länder, die den Netzausbau mit Steuergeldern stark subventionieren. Länder wie Deutschland, die Niederlande und Schweden forderten zuletzt im Juli eine öffentliche Debatte über das Thema. Eine solche soll es laut EU-Kommission auch geben – einen ungefähren Zeithorizont nannte man auf Anfrage nicht.