Ein russisches Kriegsschiff feuert eine Rakete ab
Reuters/Vitaly Nevar
GB-Geheimdienstchef

Putin geht Munition aus

Kreml-Chef Wladimir Putin geht britischen Geheimdiensterkenntnissen zufolge bei seinem „selbst gewählten Krieg“ in der Ukraine zunehmend die „Munition“ aus. Das betrifft auch Waffen und Ausrüstung der in der Ukraine kämpfenden russischen Streitkräfte. Dazu komme schwindender Rückhalt in der russischen Bevölkerung. Geht es nach dem Chef des britischen Geheimdienstes GCHQ, Jeremy Fleming, werde den Menschen in Russland zunehmend klar, „wie sehr Putin die Situation falsch eingeschätzt hat“.

„Da er intern kaum herausgefordert wird, haben sich seine Entscheidungen als fehlerhaft herausgestellt“, zitierte die BBC am Dienstag aus dem Transkript der diesjährigen Rede Flemings vor dem
Königlichen Institut der vereinigten Streitkräfte für Verteidigungs- und Sicherheitsstudien (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies, RUSI).

Spürbare Konsequenzen habe das nicht nur für den in Russland weiter als „Spezialoperation“ bezeichneten Krieg, sondern auch für das russische Volk. Fleming verweist unter anderem auf die eingeschränkten Reisemöglichkeiten und schwindenden Zugang zu moderner Technologie – und auf Russen, die wegen der Teilmobilmachung vor der Wehrpflicht ins Ausland fliehen. Dazu kämen Geheimdienstinformationen, wonach auch in der Ukraine kämpfende russische Soldaten „Befehle verweigert, ihre eigene Ausrüstung sabotiert und versehentlich eines ihrer eigenen Flugzeuge abgeschossen“ hätten.

Letzte Raketen verschossen?

Die im Ukraine-Krieg anfallenden Kosten seien nach Flemings Worten für Russland wohl „schwindelerregend“. Dazu kämen dem GCHQ-Chef zufolge sich leerende russische Munitionsdepots: „Wir wissen, und das wissen auch russische Kommandeure im Krieg, dass ihnen die Ausrüstung und Munition ausgeht.“

Das betrifft mit Blick auf die jüngste Eskalationsstufe und die seit Wochenbeginn erfolgenden schweren Raketenangriffe auf ukrainische Städte offenbar auch Russlands Bestände an modernen Marschflugkörpern. Diese würden nach den jüngsten Angriffen wohl bald aufgebraucht sein, mutmaßte der Militärexperte Pawel Lusin gegenüber dem russischen Onlinemagazin The Insider.

Ein Nachschubproblem attestiert Lusin Russland nicht nur bei modernen Raketensystemen. Bis Ende des Jahres könnten auch Granaten für Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge aufgebraucht sein. „Aufgrund der Sanktionen kann Russland die industrielle Produktion von Waffen nicht in vollem Umfang fortsetzen und seine Waffenvorräte, die rasch zur Neige gehen, nicht auffüllen“, hieß es bei The Insider.

„Teil einer größeren Zermürbungsstrategie“

Der Militärexperte Franz-Stefan Gady vom Internationalen Institut für strategische Studien (IISS) in London vermutet hinter den jüngsten Raketenangriffe eine „größere Zermürbungsstrategie“. Gegenüber der ZIB2 stellte Gady die russischen Angaben infrage, wonach es sich um einen spontane Vergeltungsaktion für die Explosion auf der Krim-Brücke handle.

Diese Art von Angriff müsse langfristig geplant worden sein, so Gady mit Verweis auf die an der Front in der Defensive befindlichen russischen Streitkräfte.

Militärexperte über Raketenangriffe

Militärexperte Franz-Stefan Gady vermutet, dass die russischen Raketenangriffe Teil einer größeren Zermürbungsstrategie sind.

Auch laut Ukraine sind die russischen Raketenangriffe von langer Hand geplant. Angriffe dieses Ausmaßes könnten nicht innerhalb von ein paar Tagen ausgearbeitet werden, sagte mit John Kirby zuletzt auch der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA.

„Gerede über Atomwaffen sehr gefährlich“

Als „sehr gefährlich“ betrachtet Fleming jegliches Gerede über Atomwaffen. Man müsse sehr vorsichtig sein, „wie wir darüber reden“, so Fleming gegenüber BBC Radio 4. So wie in den USA und anderen westlichen Ländern seien derzeit auch den Geheimdiensten in Großbritannien keine „verdächtigen Aktivitäten“ in Russland bekannt.

Sollte Russland tatsächlich den Einsatz von Atomwaffen planen, hoffe man auf „Indikatoren“. Fleming zufolge verabscheue man „die Art und Weise, wie die russische Militärmaschinerie und Präsident Putin diesen Krieg führen“ – er sei sich aber sicher, dass auch Putin über die Gefahren einer weiteren Eskalation besorgt sei.

Schlechte Vorzeichen für neuen Befehlshaber

Der tägliche Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums ging am Dienstag auch auf die neue Rolle des Armeegenerals Sergej Surowikin ein. Seine Ernennung vor wenigen Tagen sei mutmaßlich der Versuch, die Durchführung russischer Angriffe in der Ukraine zu verbessern. Über lange Zeit habe Moskau keinen Zuständigen mit einer Gesamtaufsicht über das Geschehen gehabt.

Mit der Ernennung von Surowikin zum neuen Oberbefehlshaber will Russland nach Angaben des britischen Geheimdienstes „die Durchführung seines Krieges verbessern“. Surowikin werde jedoch „wahrscheinlich mit einem zunehmend parteiischen russischen Verteidigungsministerium konkurrieren müssen, das nur über unzureichende Mittel verfügt, um die ihm gesetzten politischen Ziele in der Ukraine zu erreichen“.

Das britische Verteidigungsministerium veröffentlicht seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Ende Februar unter Berufung auf Geheimdienstinformationen täglich Informationen zum Kriegsverlauf. Damit will die britische Regierung sowohl der russischen Darstellung entgegentreten als auch Verbündete bei der Stange halten. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.