Russischer Soldat steht Wache vor zivilem Bus
Reuters/Alexander Ermochenko
US-Thinktank

Moskau forciert Deportation von Ukrainern

Russland setzt die Deportationen von Ukrainern und Ukrainerinnen in den von Moskau besetzten Gebieten nach Einschätzung unabhängiger Fachleute fort. Die russischen Behörden hätten offen zugegeben, Kinder aus den besetzten Gebieten zur Adoption an russische Familien auf eine Weise zu vermitteln, die einen Verstoß gegen die Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes darstellen könnte, schrieb die Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW).

Zudem habe der russische Vizeregierungschef Marat Chusnullin am 14. Oktober erklärt, dass „mehrere tausend“ Kinder aus der Oblast Cherson im Südosten der Ukraine „bereits in anderen Regionen Russlands in Erholungsheimen und Kinderlagern untergebracht sind“. Unter dem zunehmenden Druck der ukrainischen Gegenoffensiven hatten die russischen Besatzer im Gebiet Cherson Zivilisten zuletzt zur Flucht aufgerufen.

Möglicherweise betrieben die russischen Behörden darüber hinaus eine umfassendere Art der ethnischen Säuberung, indem sie ukrainisches Gebiet durch Deportationen entvölkern und ukrainische Städte mit ins Land gebrachten russischen Bürgern neu besiedelten, schrieb das ISW weiter. Ethnische Säuberungen sind den Fachleuten der Denkfabrik zufolge an sich nicht als Verbrechen im Sinne des Völkerrechts definiert.

Sie seien aber von der Expertenkommission der UNO für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien unter anderem definiert worden als „ethnische Homogenisierung eines Gebiets durch Anwendung von Gewalt oder Einschüchterung, um Angehörige bestimmter Gruppen aus dem Gebiet zu vertreiben“.

Ukraine berichtet von neuen russischen Angriffen

Die Ukraine machte am Sonntag unterdessen die russische Armee für weitere Angriffe auf zivile Ziele verantwortlich. Allein in Nikopol im Süden des Landes seien mehr als 30 Geschoße eingeschlagen, teilte der stellvertretende Chef des Präsidialbüros, Kyrylo Tymoschenko, am Sonntag auf Telegram mit. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuletzt von einer „sehr schwierigen Situation“ in den Gebieten Donezk und Luhansk gesprochen. Am schwierigsten sei sie wie in den Tagen zuvor bei der Stadt Bachmut.

Das ukrainische Militär berichtete auch von andauernden Kämpfen im Gebiet Cherson. Die „Financial Times“ berichtete unter Berufung auf nicht näher genannte westliche Militärexperten, die ukrainischen Truppen könnten möglicherweise schon in der kommenden Woche in Cherson bis zum Fluss Dnipro durchstoßen.

Peskow: NATO „de facto“ schon involviert

Russland wehrte nach eigenen Angaben einen Vormarsch ukrainischer Truppen in den Regionen Donezk, Cherson und Mykolajiw ab. Unter anderem seien im Raum Charkiw drei US-Haubitzen vom Typ M777 getroffen worden, teilte der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow, am Sonntag russischen Agenturen zufolge mit. Die von Russland gelenkten Separatisten in der Ostukraine berichteten über einen Beschuss der Stadt Donezk durch die ukrainische Armee. Berichte aus den Kampfgebieten können nicht unabhängig geprüft werden.

Die militärische „Operation“ werde zu Ende gebracht, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Sonntag im Staatsfernsehen. Das werde zwar erschwert durch die Hilfe westlicher Staaten für die Ukraine. Aber Russland habe genug Potenzial zur Fortsetzung des Einsatzes. Er sagte, die NATO sei „de facto“ schon in den Konflikt involviert.

Ehemaliger US-General: Krim-Befreiung bis Sommer möglich

Ein schwerer Rückschlag könnte Russland nach Ansicht des ehemaligen US-Generals Ben Hodges auf der Krim drohen. Hodges hält eine Befreiung der von Russland 2014 annektierten Halbinsel bis zum Sommer kommenden Jahres für möglich. „Wenn ich mir die Situation anschaue, dann sehe ich, dass die Lage der Russen mit jeder Woche schlechter wird. Man sagt, Krieg sei ein Test des Willens und der Logistik – und in beiden Punkten ist die Ukraine weit überlegen“, sagte der ehemalige Oberbefehlshaber der US-Army in Europa der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Sonntag-Ausgabe).

GB: Russland verbraucht mehr Munition, als es produziert

Das russische Heer sah sich in den vergangenen Wochen mit einigen Herausforderungen konfrontiert: Nach britischen Angaben kommt Russland wegen seines Vorgehens beim Angriffskrieg gegen die Ukraine nun etwa bei der Produktion von Munition nicht mehr hinterher. „Die russische Verteidigungsindustrie ist vermutlich nicht in der Lage, fortschrittliche Munition in dem Maße zu produzieren, in dem sie verbraucht wird“, teilte das britische Verteidigungsministerium am Sonntag in seinem Geheimdienstupdate zum Ukraine-Krieg mit.

Die mehr als 80 Raketenangriffe auf mehrere ukrainische Städte zu Wochenbeginn bedeuteten eine weitere Verschlechterung der russischen Bestände an Langstreckenraketen, erklärten die Briten. Das schränke voraussichtlich die russischen Möglichkeiten ein, in Zukunft erneut diese Anzahl an Zielen zu treffen.

Rund siebeneinhalb Monate nach Kriegsbeginn hatte Russland am Montag mehr als 80 Raketen auf die Ukraine abgefeuert – darunter auch auf die Hauptstadt Kiew. Rund 20 Menschen wurden getötet und mehr als 100 verletzt. Der russische Präsident Wladimir Putin kündigte am Freitag an, Angriffe auf verfehlte Ziele würden „nachgeholt“. Er betonte zugleich, dass aktuell keine weiteren großflächigen Angriffe geplant seien.

Erste Russen für gemeinsame Truppe in Belarus

Russland schickte unterdessen erste Soldaten für eine gemeinsame Truppe mit Belarus in das Nachbarland. „Die ersten Truppenzüge mit russischen Soldaten (…) kamen in Belarus an“, zitierte die russische Agentur TASS am Sonntag einen Sprecher des Verteidigungsministeriums in Minsk. „Die Verlegung wird mehrere Tage dauern. Die Gesamtzahl wird etwas weniger als 9.000 Menschen betragen“, hieß es.

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hatte am Montag die Aufstellung einer gemeinsamen regionalen Truppe mit Russland bekanntgegeben. Sie solle angesichts der steigenden Spannungen die belarussische Grenze schützen.

Russland hat Belarus als Aufmarschgebiet für den Krieg gegen die Ukraine genutzt und startet von dort auch Luftangriffe auf ukrainische Ziele. Ein eigenes Eingreifen von Belarus in den Krieg wird von Militärbeobachtern bisher für wenig wahrscheinlich gehalten. Dieser unpopuläre Schritt könnte auch Lukaschenkos Machtposition im Land erschüttern. Andererseits bindet ein russisch-belarussischer Aufmarsch an der Grenze ukrainische Kräfte, die dann im Osten und Süden des angegriffenen Landes fehlen.