die britische Premierministerin Liz Truss
AP/Daniel Leal
Premiersessel als Schleudersitz

Truss’ Politkarriere am seidenen Faden

In Krisenzeiten verringert sich üblicherweise die Halbwertszeit von Politkarrieren, doch die derzeitigen Entwicklungen in Großbritannien stellen noch einmal eine Klasse für sich dar. Die neue Premierministerin Liz Truss ließ in ihren sechs Wochen Amtszeit bisher kaum ein Fettnäpfchen aus und brachte selbst die eigenen Reihen gegen sich auf. Für Spott und Häme ist gesorgt. Dass sich Truss halten kann, ist zweifelhaft.

„Wie läuft der Brexit so?“, fragte der liberale EU-Politiker Guy Verhofstadt spöttisch auf Twitter. Die Probleme, mit denen Großbritannien derzeit kämpfe, hätten schon 2016 begonnen, so Verhofstadt, also mit dem Austrittsreferendum der Britinnen und Briten aus der EU. Tatsächlich waren die vergangenen sechs Jahre politisch gesehen ereignisreich, Großbritannien zählte vier Premierministerinnen und -minister in dieser Zeit, ebenso wie Italien (in Österreich waren es in derselben Zeit – je nach Art der Rechnung – sechs bzw. neun Bundeskanzler).

„Großbritanniens Verwandlung in ein neues Italien ist fast abgeschlossen“, konstatierte entsprechend der „Telegraph“ am Sonntag. Die Parallelen bei wirtschaftlichem Verfall und politischer Instabilität seien nicht von der Hand zu weisen. Gemeint waren damit aber nicht die vergangenen sechs Jahre, sondern sechs Wochen – seit Liz Truss Premierministerin ist.

Hunt soll Kohlen aus Feuer holen

Das Zeugnis, das die konservative Zeitung der konservativen Regierung ausstellte, ist vernichtend, von der Regierung weniger zugetanen Blättern ganz zu schweigen. Die Steuerpläne, die Truss’ erster Finanzminister Kwasi Kwarteng verkündet hatte, zogen schwere Konsequenzen nach sich. Sie sahen 45 Milliarden Pfund an unfinanzierten Steuersenkungen für Wohlhabende vor. Daraufhin gab es Proteste der Bevölkerung sowie ein heftiger Einbruch des britischen Pfunds. Die Bank of England musste mehrmals intervenieren und Staatsanleihen kaufen. Steigende Zinsen für Immobilienkredite verschärften für viele Hausbesitzende die Krise der Lebenshaltungskosten.

Kwarteng musste gehen – auch er war gerade sechs Wochen im Amt. Truss trat den Canossagang an und deutete eine Abkehr von den Plänen an. Das will nun Kwartengs Nachfolger, der neue Finanzminister Jeremy Hunt, erledigen. Als ersten Schritt kassierte er am Montag die Vorhaben, die Truss mit Kwarteng gemeinsam ausgetüftelt hatte.

Kehrtwende vollzogen

Es würden „fast alle“ der angekündigten Steuersenkungen gestrichen, der Grundsteuersatz von 20 Prozent bleibe bestehen. Das Einfrieren von Gas- und Strompreisen über den Winter hinaus solle zudem überprüft werden. Ein allzu dauerhafter Preisdeckel wäre zu teuer und kaum finanzierbar. Wichtigstes Ziel der Regierung sei die wirtschaftliche Stabilität, so Hunt.

ORF-Analyse: Sparkurs in Großbritannien

ORF-Korrespondentin Sophie Roupetz nennt Details aus dem Haushaltsplan des neuen britischen Finanzministers Jeremy Hunt. Sie spricht auch über die Zukunft der unter Druck geratenen Premierministerin Liz Truss.

Hunts Berufung zeigt, dass die Personaldecke der Torys dünn ist: Er war bereits Außenminister, Gesundheitsminister und hatte sich um die Spitze der Konservativen Partei beworben, war aber nach wenigen Wahlgängen gescheitert. Durchgesetzt hatte sich in dem wochenlangen Prozedere Truss, die nun nicht so schnell weichen will. Einen Rücktritt schließt sie kategorisch aus.

Von der neuen „Eisernen Lady“ zu „PINO“

Freilich könnte ihr diese Entscheidung ohnehin nicht selbst zufallen, in London reißen die Gerüchte über Absetzungstendenzen in der konservativen Partei nicht mehr ab. Gleich nach Verkündung ihrer ersten Pläne ventilierten britische Medien Gerüchte, wonach einflussreiche Torys bereits an Truss’ Stuhlbeinen sägten. Ihre Hoffnung in eine neue „Eiserne Lady“, wie Truss zu Beginn genannt wurde, war schnell dahin.

Inzwischen ist der Unmut stark angewachsen, während die Umfragen für die Torys in den Keller fielen. Das Boulevardblatt „Daily Mail“ schrieb, dass schon mögliche Nachfolger gesucht würden. Hunt sei nun ohnehin der „De-facto-Premier“, Truss nur mehr „PINO“ („Prime Minister in Name Only“ – Premierministerin nur auf dem Papier). Als mögliche Nachfolger werden Ex-Finanzminister Rishi Sunak, Verteidigungsminister Ben Wallace und die für Parlamentsfragen zuständige Ministerin Penny Mordaunt gehandelt. Mitunter fällt sogar der Name Boris Johnson, Truss’ skandalumwitterter Vorgänger in der Downing Street.

Mordaunt vertrat Truss am Montag in einer von der oppositionellen Labour-Partei beantragen Aktuellen Stunde zur Regierungskrise. Ihre Begründung für das Fernbleiben der Premierministerin, diese sei wegen „dringlicher Aufgaben unabkömmlich“, wurde von der Opposition mit Gelächter beantwortet. Labour-Chef Keir Starmer spottete: „Ich gehe davon aus, dass in dieser Tory-Regierung jeder mal für 15 Minuten Premierminister sein darf.“

Zwischen Revolte, Abgang und Neuwahl

Bis zum Montag sollen rund 100 „Letters of no confidence“ beim zuständigen Parteiausschuss eingelangt sein, weit mehr als eigentlich nötig. Mit diesen Briefen drücken konservative Abgeordnete aus, dass sie in die eigene Premierministerin kein Vertrauen haben. Eigentlich haben neue Tory-Parteichefs ein Jahr lang Welpenschutz, ein Vertrauensvotum ist erst nach einem Jahr möglich. Doch selbst diese Regel steht laut Medienberichten zur Disposition, ebenso wie die Frage, ob man nicht die Bedingungen erschweren sollte, die man als Premiersanwärter oder -anwärterin erfüllen muss.

Auch eine Neuwahl wäre theoretisch möglich, doch die Torys müssten zustimmen und würden wohl eine krachende Niederlage kassieren. Ewig aber werden sie sich vielleicht nicht verwehren können. Für Truss bleiben derzeit zwei Optionen: ein Rücktritt aus eigenem Antrieb oder die Krise aussitzen. Dass das möglich ist, darüber zweifeln allerdings die meisten politischen Beobachterinnen und Beobachter. Zu viel Vertrauen sei verloren gegangen.

Schiff im Sinken

Die Regierung sei ein „Schiff, bei dem bereits Teile abgebrochen und gesunken sind, und bei dem die Navigationsausrüstung – die eigentliche Richtung und der Zweck dieser Regierung – herausgerissen und ins Meer geworfen wurde“, so ein Kommentar der BBC. Viele Besatzungsmitglieder hätten ein Auge auf die Rettungsboote geworfen, „und es ist ziemlich sicher, dass das Ganze bald genug untergeht“.

Truss entschuldigt sich für „Fehler“

Wie Truss weiterverfahren will, bleibt abzuwarten. Montagabend hat sie sich jedenfalls für „Fehler“ im Zusammenhang mit ihren Steuerplänen entschuldigt. „Ich möchte mich meiner Verantwortung stellen und mich für die Fehler, die gemacht wurden, entschuldigen“, sagte sie in einem Interview mit der BBC. Die Regierung sei bei den geplanten Reformen „zu schnell zu weit gegangen“.

Truss entschuldigt sich für „Fehler“

Die britische Premierministerin Liz Truss hat sich für „Fehler“ im Zusammenhang mit ihren Steuerplänen entschuldigt. „Ich möchte mich meiner Verantwortung stellen und mich für die Fehler, die gemacht wurden, entschuldigen“, sagte sie in einem Interview mit der BBC. Die Regierung sei bei den geplanten Reformen „zu schnell zu weit gegangen“.

Rücktrittsforderungen erteilte Truss eine Absage. „Ich werde auf meinem Posten bleiben, um meine Verpflichtungen im nationalen Interesse zu erfüllen“, sagte sie. Spätestens am Mittwoch muss sie sich den Fragen der Abgeordneten stellen.