Gen Z im Iran

Sehnsucht nach einem anderen Leben

Seit einem Monat erschüttern Proteste den Iran. Anders als bei früheren Protestbewegungen stehen an vorderster Front vor allem junge Menschen: Studierende sowie Schülerinnen und Schüler gehen landesweit auf die Straße und fordern ein Ende des islamischen Regimes. Die Generation Z sehnt sich nach einer Freiheit, die sie in den sozialen Netzwerken sieht, sagt der iranische Soziologe Behrus Alichani gegenüber ORF.at.

„Für ihre Zukunft sind sie bereit, ihr Leben zu riskieren, weil sie sonst keine für sich sehen würden“, sagt Sophie Cheriki im Interview mit ORF.at. Die 31-jährige Journalistin und Kinderbuchautorin aus Teheran erlebt die Proteste aus dem Exil in Österreich. Sie war im Jahr 2009 auf der Straße, als nach der Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmadinedschad Hunderttausende protestierten und einen Systemwechsel forderten. Dieses Mal seien die Proteste anders, erzählt sie ORF.at im Video: „Schülerinnen und Studierende, Frauen und Männer aus allen Bevölkerungsschichten protestieren gemeinsam, das gab es noch nie.“

Der Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam hat eine Jugendrevolte im ganzen Land ausgelöst: Amini, die starb, weil sie angeblich ihr Kopftuch nicht richtig getragen haben soll, ist zur Symbolfigur für Tausende von jungen Menschen geworden, die auf den Straßen, in Klassenzimmern und an Universitäten protestieren, unter der Parole „Frau, Leben, Freiheit“. Videos in sozialen Netzwerken zeigen Schülerinnen und Studierende, die ihren Hidschab abnehmen und ihr Haar zeigen. Sie singen, schneiden sich aus Protest die Haare ab und rufen „Tod dem Diktator“ – eine Anspielung auf Ajatollah Ali Chamenei, dem geistlichen Oberhaupt der Islamischen Republik. Bei der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste sollen nach Angaben von Menschenrechtsgruppen bereits 23 Minderjährige getötet und viele weitere verletzt worden seien.

Leben wie andere Teenager

Alichani, ein iranischer Soziologe an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, beschreibt die Generation Z des Iran als mutiger und informierter als frühere Generationen. Die sozialen Netzwerke seien ein wichtiger Faktor bei den Protesten: Dort, in der Welt der sozialen Netzwerke, scheine alles erreichbar zu sein, während „die iranischen Jugendlichen in der Realität in einer extrem abgeschotteten Welt unter einem autoritären und ideologischen Regime leben“, so Alichani. Die Ideologie des Regimes werde bei dieser Generation verglichen zum Anfang der Revolution von 1979 als „illegitim und unfähig“ angesehen.

Sophie Cheriki
Sophie Cheriki
Die iranische Journalistin, Autorin und Künstlerin Sophie Cheriki hat mit ORF.at über die Proteste gesprochen

Die iranische Bevölkerung ist überwiegend jung, etwa 60 Prozent der 84 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Landes sind unter 30 Jahre alt. Wegen des Atomstreits und der internationalen Sanktionen hat der Rial, die nationale Währung, in den letzten Jahren stark an Wert verloren, die Menschen leiden unter der Wirtschaftskrise und einer Inflation von über 50 Prozent. Alichani erklärt: „Das heutige Regime ist aufgrund von Korruption und Sanktionen wirtschaftlich bankrott, im Iran herrscht eine enorme soziale Ungleichheit.“

„Nichts zu verlieren“

Die Arbeitslosigkeit unter den iranischen Jugendlichen ist seit Jahren hoch, laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) betrug die Arbeitslosenquote im Jahr 2020 28,5 Prozent, im Vorjahr lag sie knapp über 25 Prozent – Tausende Akademikerinnen und Akademiker verlassen das Land. Alichani sagt, „die junge Generation habe etwas nicht, was wir damals hatten, nämlich eine berufliche Perspektive“.

Er habe Chemie studiert, aber fahre Taxi und lebe noch immer bei seinen Eltern, zitiert die APA den 27-jährigen Schajan. Mit seiner Freundin könne er nicht zusammenziehen, geschweige denn heiraten, weil sie sich keine Wohnung leisten könnten. Auch zum Auswandern fehle das Geld, so Schajan, „deshalb demonstrieren wir“. Angst vor den Sicherheitskräften haben der junge Chemiker und seine Freundin nicht: „Wir haben nichts zu verlieren.“

Mehr Solidarität zwischen Männern und Frauen

An vorderster Front der Proteste stehen Frauen, die von Männern unterstützt werden. In einem Land, in dem Mädchen und Burschen getrennte Schulen besuchen, ist das nicht selbstverständlich. Auch dazu hätten die sozialen Netzwerke beigetragen, meint Alichani, denn das Regime könne „die Abschottung zwischen den Geschlechtern nicht mehr aufrechterhalten“. Es herrsche mehr Solidarität und Empathie zwischen Männern und Frauen in der iranischen Generation Z, bei den Protesten sprechen sie „von einem gemeinsamen Schmerz, der nur zusammen geheilt werden kann“, so der Soziologe.

Iranischer Sänger Shervin Hajipour
AFP/Khaled Desouki
Der iranische Sänger Hadschipur hat in seinem Lied „Baraye“ die Sehnsüchte der jungen Protestierenden zusammengefasst

„Für Tanzen auf den Straßen“

Die Sehnsucht nach einem besseren Leben der Jungen thematisiert auch der 25-jährige Sänger Scherwin Hadschipur. Mit seinem Lied „Baraye“ („für"/ "wegen“ auf Farsi) hat er die Hymne der Protestbewegung geschrieben: „Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben, für Tanzen auf den Straßen, für Küssen ohne Angst, für die verrosteten Köpfe“, lauten Zeilen aus dem Lied. Der Text basiert auf einer Sammlung von Tweets und Slogans über die Proteste. Wie die französische Tageszeitung „Le Monde“ berichtete, nahm Hadschipur, der in einer iranischen Fernsehsendung bekannt wurde, sein Lied in seinem Schlafzimmer in der nördlichen Stadt Babolsar auf. Der Sänger wurde kurz nach der Veröffentlichung vor einigen Wochen festgenommen, nach seiner Festnahme wurde das Lied bei allen Demonstrationen und Versammlungen gesungen oder gespielt. Derzeit ist Hadschipur auf Kaution frei.

Die iranische Generation Z sei eine der größten Herausforderungen für das Regime, heißt es in der „New York Times“. Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Welten sei gewaltig, sagt Alichani, die iranischen Jugendlichen möchten eine andere politische, soziale und wirtschaftliche Realität in ihrem Land schaffen, „eine, welche besser zu ihren Wünschen, Idealen und Fantasien passt.“