Russlands Präsident Wladimir Putin
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Besetzte ukrainische Gebiete

Kreml weitet mit Kriegsrecht Macht aus

Der russische Präsident Wladimir Putin hat in vier kürzlich annektierten ukrainischen Gebieten sowie auf der Krim den Kriegszustand verhängt. Ein entsprechendes Dekret habe er bereits unterschrieben, sagte Putin am Mittwoch bei einer im Staatsfernsehen übertragenen Ansprache im nationalen Sicherheitsrat. Mit dem Kriegsrecht gehen wesentliche Machtbefugnisse für die russischen Besatzungsverwaltungen in den Gebieten Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja einher.

Damit dürften die Freiheiten der in Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk lebenden Ukrainerinnen und Ukrainer noch einmal erheblich eingeschränkt werden. So gelten etwa eine Sperrstunde und Militärzensur; es werden Checkpoints eingerichtet und Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, wie der russische Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow erklärte.

Möglich seien auch Festnahmen bis zu 30 Tage, die Beschlagnahme von Eigentum, die Internierung von Ausländerinnen sowie Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger ins Ausland. Auch die Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben soll möglich und das Abhören privater Telefongespräche offiziell erlaubt sein. Menschenrechtlerinnen und -rechtler befürchten, dass sich die Lage in den betroffenen Regionen, die schon bisher unter Kriegsrecht lebten, weiter verschärft, weil die Behörden größere Machtbefugnisse besitzen.

Ungeachtet dieser drastischen Maßnahme nannte Putin die Kämpfe gegen das Nachbarland weiter nur eine „militärische Spezialoperation“. Er ordnete die Bildung eines Koordinierungsrats mit Regierungschef Michail Mischustin an der Spitze an. Dieser solle die Zusammenarbeit von Russlands Behörden und Streitkräften in der Ukraine verbessern – etwa bei der Lieferung von Waffen.

Experten: Alle Regionen Russlands könnten betroffen sein

Mit Blick auf den genauen Text von Putins Dekret wiesen russische Experten nun außerdem darauf hin, dass von dem Kriegsrecht im Grunde theoretisch alle Regionen Russlands in der einen oder anderen Weise betroffen sein könnten. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow trat Befürchtungen entgegen, Russland werde jetzt seine Grenzen für die eigenen Bürgerinnen udn Bürger schließen.

Das sei nicht geplant, sagte er der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti. Auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin betonte, das Kriegsrecht in den vier annektierten Gebieten werde das Alltagsleben der Hauptstädterinnen und Hauptstädter „derzeit“ nicht beeinflussen.

Völkerrechtswidrige Annexionen im September

Putin hatte Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja Ende September nach mehreren Scheinreferenden völkerrechtswidrig annektieren lassen. International wird der Schritt nicht anerkannt. Vor wenigen Tagen hatte die UNO-Vollversammlung in einer Resolution mit großer Mehrheit Russland aufgefordert, den Anschluss der teils besetzten Regionen rückgängig zu machen. Der UNO-Beschluss ist völkerrechtlich allerdings nicht bindend.

Eine Frau bei der Stimmabgabe in Mariupol
AP
Eine Frau bei einem der umstrittenen Referenden in einem Wahllokal im Osten der Ukraine

Die Verhängung des Kriegsrechts begründete Putin damit, dass Kiew es ablehne, die Ergebnisse der im September abgehaltenen Abstimmungen über einen Beitritt zu Russland anzuerkennen. „Im Gegenteil, der Beschuss geht weiter. Unschuldige Menschen sterben“, sagte Putin. Seiner Darstellung zufolge sind Rückeroberungsversuche der Ukraine nun Angriffe auf russisches Staatsgebiet.

Ungeachtet des von Putin verhängten Kriegszustands will Kiew die Rückeroberungsversuche zur Befreiung besetzter Gebiete fortsetzen. Der Schritt aus Moskau ändere nichts, teilte der Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, am Mittwoch auf Twitter mit. „Die Einführung des Kriegsrechts in den besetzten Gebieten durch die Russische Föderation sollte nur als Pseudolegitimierung der Plünderung des Eigentums der Ukrainer (…) betrachtet werden“, schrieb er. Die Ukraine werde die Befreiung der von Russland besetzten Territorien fortsetzen.

Prorussische Verwaltung flieht über Dnipro

Die Schritte gelten als weitere Reaktion auf die zuletzt immer wieder erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte. Der neue Oberbefehlshaber der russichen Streitkräfte in der Ukraine, Sergej Surowikin, hatte in einem ungewohnten TV-Auftritt zuletzt eine „schwierige Lage“ an der Front in der ukrainischen Region Cherson eingestanden.

Evakuierungsaktion für Cherson gestartet

Angesichts der vorrückenden ukrainischen Truppen hat in der von Russland besetzten Region Cherson im Süden der Ukraine nach Angaben von prorussischen Behörden die Evakuierung der Regionalhauptstadt begonnen. Einwohner und Einwohnerinnen von Cherson würden vom westlichen an das östliche Ufer des Dnipro gebracht, gab die prorussische Verwaltung im Internet bekannt.

Russischen Angaben zufolge werden Zivilpersonen für sieben Tage der Zutritt zur Region verwehrt. Dazu kommt eine offenbar großangelegte Evakuierungsaktion – angesichts eines befürchteten ukrainischen Großangriffes soll auch die prorussische Verwaltung über den Fluss Dnipro aus der Stadt gebracht werden.

Russische Armee soll Stadt „bis zum Tod“ verteidigen

„Ab heute werden alle Regierungsstrukturen der Stadt, die zivile und militärische Verwaltung, alle Ministerien, an das linke Flussufer (des Dnipro, Anm.) verlegt“, sagte der prorusssiche Verwaltungschef der Region Cherson, Wladimir Saldo, am Mittwoch dem russischen Sender Rossija 24.

Während die russische Armee in der Stadt bleibe und diese „bis zum Tod“ verteidigen werde, sollen nach Saldos Angaben in den kommenden Tagen auch rund 50.000 bis 60.000 Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt an das Ostufer des Dnipro oder nach Russland gebracht werden.

Grafik zur Lage im Gebiet Cherson in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW

Benachrichtigung per SMS

Saldos Stellvertreter Kirill Stremousow forderte die Zivilbevölkerung über den Messengerdienst Telegram zum Verlassen der Hauptstadt Cherson der gleichnamigen Region auf, in der vor dem Krieg fast 300.000 Menschen lebten. Das ukrainische Militär werde in Kürze eine Offensive auf die Stadt beginnen, sagte Stremousow. „Ich fordere Sie auf, meine Worte ernst zu nehmen und sie umzusetzen: die schnellstmögliche Evakuierung“, schrieb er in der Nacht auf Mittwoch.

Die Räumung der Stadt ist russischen Angaben zufolge bereits angelaufen. Staatliche Medien zeigten Bilder, auf denen zu sehen ist, wie Menschen mit Fähren über den Fluss auf die andere Seite gebracht werden. Der Agentur TASS zufolge wurden die Bewohner des Gebiets per SMS von den Plänen informiert. 5.000 Menschen hätten Cherson bereits in den vergangenen zwei Tagen verlassen.

Surowikin spricht von „schwierigen Entscheidungen“

Die Situation könne als angespannt bezeichnet werden, sagte General Surowikin zuvor dem Sender Rossija 24. Er stellte „schwierige Entscheidungen“ in den Raum. Den ukrainischen Streitkräften warf er den Beschuss von Wohnhäusern und der Infrastruktur der Stadt vor. Durch Artillerietreffer habe die Ukraine die Übergänge über den Dnipro unpassierbar gemacht. Das erschwere die Versorgung der Stadt.

„Wir werden bedacht und rechtzeitig handeln und schließen auch schwierige Entscheidungen nicht aus“, sagte Surowikin. Das wurde als Hinweis auf einen möglichen Rückzug verstanden. Den russischen Angaben zufolge habe die ukrainische Armee im Süden der Region Cherson zuletzt Zehntausende Soldaten zusammengezogen. Noch sei die Lage „stabil“, so Stremousow – man erwarte aber einen Angriff.

„Popagandashow mit Evakuierungen“

Die Ukraine warf dagegen Russland Propaganda vor. „Die Russen versuchen, die Menschen in Cherson mit falschen Newslettern in Angst und Schrecken zu versetzen, wonach unsere Armee die Stadt beschießt, und sie bereiten auch eine Propagandashow mit den Evakuierungen vor“, schrieb Andrij Jermak, Chef des ukrainischen Präsidialamtes, in seinem Telegram-Kanal. „Propaganda wird nicht funktionieren.“

30 Prozent der E-Werke zerstört

Im Fokus der russischen Streitkräfte bleiben militärische Ziele und Energieanlagen der Ukraine. Das russische Verteidigungsministerium meldete am Mittwoch weitere Luftangriffe. Auch in Kiew gab es wieder Luftalarm. AFP-Angaben zufolge waren in der ukrainischen Hauptstadt mehrere Explosionen zu hören. Bei Angriffen mit Kampfdrohen wurden in Kiew in den vergangenen Tagen mehrere Menschen getötet. Bei den Angriffen auf die Energieinfrastruktur fiel in mehreren Regionen des Landes der Strom aus.

„Die Lage ist jetzt im ganzen Land kritisch“, hieß es am Dienstag aus dem Präsidialamt in Kiew. Laut Staatschef Wolodymyr Selenskyj zerstörte Russland binnen einer Woche 30 Prozent der ukrainischen Elektrizitätswerke. Laut den staatlichen Notfalldiensten waren am Dienstag mehr als 1.100 Orte ohne Strom.

Die ukrainischen Luftstreitkräfte zerstörten nach eigenen Angaben seit Mitte September 223 iranische Drohnen. Teheran bestritt zuletzt wiederholt, Waffen und Drohnen an Russland zu liefern. Wie die Europäische Union jedoch am Mittwoch bekanntgab, habe sie „hinreichende Beweise“, dass von Russland gegen die Ukraine eingesetzte Drohnen aus dem Iran stammen. Diplomaten zufolge bereiten die Botschafter der EU-Staaten nun weitere Sanktionen gegen den Iran vor.