Blick in den Sitzungssaal des Nationalrates im Parlamentsgebäude im Juni 2022
APA/Roland Schlager
Parlament

Unabwählbar an der Nationalratsspitze

Ex-Generalsekretär Thomas Schmid hat mit seinem Geständnis wieder Bewegung in die Causa rund um Inserate, Postenbesetzungen und Steuerdeals gebracht. Die Folgen seiner Aussagen sind nicht absehbar. Dennoch entwickeln sich einige Debatten, die mitunter auch die politische Spitze des Parlaments betreffen.

Schmid hatte bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) schwere Vorwürfe gegen Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) geäußert. Sobotka habe rund um die Jahre 2013 und 2014 bei ihm interveniert, um Steuerprüfungen beim Alois-Mock-Institut oder der Alois-Mock-Stiftung sowie der Erwin-Pröll-Stiftung zu verhindern, so der langjährige ÖVP-Vertraute Schmid. Sobotka nannte die Vorwürfe in Interviews „frei erfunden“ und bezeichnete Schmid als „Baron Münchhausen“. Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.

Trotz aller Gegenwehr Sobotkas forderte die Opposition seinen Rücktritt als Präsident des Nationalrats. Der wiederum zeigte sich wie schon bei den Aufforderungen im Zuge des ÖVP-U-Ausschusses wenig beeindruckt. „Die Opposition wird jedes noch so unscheinbare Pflänzchen nutzen, um mich in irgendeiner Form aus dem Amt zu drängen“, sagte Sobotka, der das zweithöchste Amt der Republik seit knapp fünf Jahren ununterbrochen bekleidet.

Die fehlende Abwahlmöglichkeit

Jemanden aus der Funktion des Nationalratspräsidenten „zu drängen“ lässt freilich Interpretationsspielräume über die Möglichkeiten zu, derer sich die Abgeordneten bedienen könnten. Auf einer gesetzlichen Ebene scheidet eine konkrete Variante aber schon von Vornherein aus: Der Nationalrat kann den Präsidenten bzw. die Präsidentin nämlich nicht abwählen. „Eine Abwahl der drei Mitglieder des Nationalratspräsidiums ist nicht möglich“, betont Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk im Gespräch mit ORF.at. Das sei in der Verfassung nicht vorgesehen.

Die einzige Bestimmung, die mit der Wahl des Nationalratspräsidiums zusammenhängt, lautet: Der Nationalrat wählt „aus seiner Mitte“ den Präsidenten, den Zweiten und Dritten Präsidenten – das geschieht mit einer einfachen Mehrheit. In der Geschäftsordnung des Nationalrats, die wie die Verfassung nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden kann, heißt es zusätzlich: Die Wahlentscheidung gilt dann „für die ganze Gesetzgebungsperiode“. Zu einem automatisierten Wechsel an der Spitze während der fünf Jahre, für die der Nationalrat gewählt wurde, kommt es also ebenfalls nicht.

Am Ende liegt es an den drei Präsidenten bzw. Präsidentinnen, ob sie ihre Ämter während der gesamten Legislaturperiode ausüben. Ein Rücktritt ist freilich immer möglich. Aus der Funktion scheiden sie auch aus, wenn sie etwa wegen einer Verurteilung ihr Nationalratsmandat verlieren. Für den Fall, dass plötzlich alle drei Mitglieder zurücktreten oder „verhindert“ sind, wird der Vorsitz durch den ältesten in Wien anwesenden Abgeordneten übernommen. Eine vorgezogene Wahl des Nationalrats könne die Parlamentsspitze ebenfalls ändern, sagt Funk.

„Liegt nicht auf der Hand“

Zwar sind die Abgeordneten bei der Wahl der Präsidenten nicht an die Mandatsstärke der einzelnen Parteien gebunden, in der Praxis sieht es aber anders aus: Die drei stimmenstärksten Klubs schlagen Kandidaten und Kandidatinnen vor. Das führte dazu, dass in der Zweiten Republik bisher das zweithöchste Amt entweder an die SPÖ oder an die ÖVP ging. Die FPÖ stellte in der Regel den Dritten Nationalratspräsidenten – einmal war die Partei an zweiter Stelle. Von 2006 bis 2008 war eine Grünen-Abgeordnete Dritte Nationalratspräsidentin.

Statue der Pallas Athene vor dem Parlamentsgebäude
APA/Roland Schlager
Der Präsident vertritt den Nationalrat nach außen und nimmt nach innen die „Geschäftsführung“ wahr

Zur fehlenden Abwahlmöglichkeit hatte Verfassungsrechtler Heinz Mayer vor Jahren gemeint, diese sei vermutlich „einfach vergessen“ worden. Jurist Peter Bußjäger stimmt dieser Ansicht im Gespräch mit ORF.at insofern zu, als eine Abwahl eines Nationalratspräsidenten „nicht unbedingt auf der Hand“ liege. Denn die Präsidenten seien in ihren Funktionen dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich, sondern sollen etwa Sitzungen leiten oder das Haus nach außen hin vertreten. Deshalb sei es möglich, dass der Verfassungsgesetzgeber an eine solche Abwahlmöglichkeit nicht gedacht hatte.

„Anders sieht es bei der Regierung aus“, sagt Bußjäger. Diese sei dem Nationalrat gegenüber verantwortlich und muss sich deshalb im Fall der Fälle einem Misstrauensvotum stellen. „Hier gibt es aufgrund des Verantwortungsverhältnisses eine Abwahlmöglichkeit“, so der Jurist. Ähnlich ist die Lage beim Bundespräsidenten. Dieser ist gegenüber der Bevölkerung politisch verantwortlich und kann nur von ihr abgewählt werden kann. Dafür bedarf es aber einer von der Bundesversammlung (Nationalrat plus Bundesrat) verlangten Volksabstimmung.

Kein „staatspolitisches Kalkül“

Für Verfassungsrechtler Funk ist die fehlende Abwahlmöglichkeit allerdings auch historisch bedingt. In der Ersten Republik sei der Präsident ursprünglich als „unparteiischer Chairman“ des Parlaments gedacht gewesen. Er sollte über der Parteipolitik stehen, um so seinem Vorsitz ein stärkeres Gewicht zu verleihen. „Dahinter stand wohl auch der Gedanke, dass sich der Vorsitz inhaltlich nicht einmischen soll. Der vorsitzführende Präsident durfte bei Anträgen auch nicht mitstimmen“, sagt Funk. Heute kann der Vorsitz an den Abstimmungen teilnehmen.

„Ich vermute einmal, dass es wegen der Funktion eines unparteiischen Chairman nicht zu Überlegungen kam, einen Parlamentspräsidenten abzuwählen“, betont der Verfassungsjurist. Möglich wäre freilich auch, dass man das Präsidium vor möglichen „Zufallsmehrheiten“ schützen wollte. Das Amt, so könnte eine Begründung lauten, sei als eine Art Bestandsgarantie zu wichtig, um ständig mit einer möglichen Abwahl konfrontiert zu sein. Aber dass die Möglichkeit nicht existiert, sei wohl eher ein „historisch gewachsenes Faktum“ als ein „staatspolitisches Kalkül“ gewesen, meint Funk.

Doris Bures, Norbert Hofer und Wolfgang Sobotka
ORF.at/Christian Öser
Derzeit sitzen Doris Bures (SPÖ), Sobotka und Norbert Hofer (FPÖ) im Präsidium

Debatte ohne Lösung

Über eine Abwahlmöglichkeit hatte der Nationalrat aber schon öfters debattiert. So richtig Fahrt nahm die Diskussion im Jahr 2009 auf, als der Dritte Nationalratspräsident Martin Graf (FPÖ) den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Ariel Muzicant, verbal attackiert hatte. Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ) wollte die Abwahl von Mitgliedern des Präsidiums ermöglichen. Die Positionen der Parteien blieben aber über Jahre hinweg äußerst flexibel. So waren die Grünen zunächst gegen eine Anlassgesetzgebung, brachten aber dann selbst einen Antrag ein.

Vor dem Antrag befürwortete die SPÖ eine gesetzliche Regelung, lehnte den Grünen-Vorstoß aber schließlich gemeinsam mit ÖVP, FPÖ und BZÖ ab. „Ich halte den Vorschlag, den die Grünen gebracht haben, für viel zu tagespolitisch orientiert“, hielt ein SPÖ-Mandatar fest. Für die ÖVP war damals klar: „Ob ein Präsident sein Amt verlieren soll oder nicht, das sollen Richter beurteilen und nicht politische Konkurrenten.“ Umso spannender ist, dass sich die ÖVP 2012 nach einer erneuten Debatte für eine Abwahlregelung aussprach.

Sobotka schließt Rücktritt aus

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) hat am Donnerstag seinen Rücktritt völlig ausgeschlossen und geht in die Gegenoffensive.

„Wie vieles andere auch ist diese Debatte in Österreich versandet“, sagt Funk. In der Sache könne man darüber diskutieren, ob eine solche Abwahlmöglichkeit sinnvoll ist. Möglich wäre zum Beispiel, so der Experte, dass der Nationalratspräsident nur mit einer Zweidrittelmehrheit vom Nationalrat abgewählt werden kann. Eine solche Lösung müsse aber politisch gewollt sein. Verwaltungsexperte Bußjäger verweist in diesem Zusammenhang auf die Länder Tirol, Burgenland und Oberösterreich: Dort können die Landtage ihre Landtagspräsidenten abberufen.