„Union Jack“ Flagge vor britischem Parlament
Reuters/May James
Großbritannien

Truss-Rücktritt befeuert Ruf nach Neuwahl

Nach dem Rücktritt der konservativen britischen Kurzzeitpremierministerin Liz Truss wird der Ruf nach einer Neuwahl immer lauter. Neben dem Chef der oppositionellen Labour Party, Keir Starmer, forderte auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon einen sofortigen Urnengang. Truss war erst vor rund sechs Wochen ins Amt als Nachfolgerin des von Skandalen überschatteten Boris Johnson gekommen. Die Truss-Nachfolge wollen die Torys bis 31. Oktober geregelt haben.

Da die Torys die Mehrheit im Parlament haben, stellen sie auch automatisch die Premierministerin bzw. den Premierminister. „Die Konservative Partei hat gezeigt, dass sie kein Regierungsmandat mehr hat“, zitiert der „Guardian“ Starmer. Er nannte in Anspielung auf die doch raschen Wechsel in Downing Street 10 die Situation bei den Torys „Drehtür des Chaos“.

Die Torys könnten auf ihren jüngsten Schlamassel nicht reagieren, indem sie ohne die Zustimmung des britischen Volkes einfach wieder mit den Fingern schnippten und die Leute an der Spitze durchmischten, sagte er. „Sie haben kein Mandat, das Land einem weiteren Experiment zu unterziehen. Großbritannien ist nicht ihr persönliches Lehen, um zu regieren, wie sie es wünschen", so Starmer.

Keir Starmer (Labour Party)
Reuters/Henry Nicholls
Labour-Chef Keir Starmer

Auch schottische Regierungschefin für Urnengang

„Die britische Öffentlichkeit verdient ein angemessenes Mitspracherecht über die Zukunft des Landes. Sie muss die Möglichkeit haben, das Chaos der Torys mit den Plänen von Labour zu vergleichen, um daraus ihre Schlüsse zu ziehen", so Starmer. Das Chaos gehöre beseitigt, die Wirtschaft für die arbeitende Bevölkerung wieder angekurbelt und das Land für eine gerechtere, grünere Zukunft wieder aufgebaut. „Wir müssen eine Chance auf einen Neuanfang haben. Wir brauchen Neuwahlen – jetzt“, so Starmer.

Die schottische Regierungschefin Sturgeon forderte ebenfalls eine Neuwahl. „Eine Neuwahl ist nun ein demokratischer Imperativ“, schrieb Sturgeon von der linksliberalen Scottish National Party (SNP) am Donnerstag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, nachdem Truss ihren Rücktritt verkündet hatte. „Es gibt gar keine Worte, um diesen Scherbenhaufen angemessen zu beschreiben“, so Sturgeon. Normale Bürgerinnen und Bürger müssten dafür den Preis zahlen. Die Interessen der konservativen Tory-Partei, die innerhalb einer Woche eine Nachfolge für Truss finden will, dürften nun keine Rolle spielen.

Nicola Sturgeon (SNP)
Reuters/Russell Cheyne
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon

Rücktritt in kurzfristig einberufener Pressekonferenz

Truss war am Donnerstag nach nur rund sechs Wochen im Amt zurückgetreten. Truss geht als Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte des Königreichs ein. Zuvor hielt George Canning den Rekord, der 1827 nach nur 119 Tagen im Amt starb. Sie werde noch bis zur Ernennung eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin im Amt bleiben, so Truss in einer kurzfristig angesetzten Pressekonferenz. Sie habe bereits mit König Charles III. darüber gesprochen.

Premierministerin Truss gibt Rücktritt bekannt

Die britische Premierministerin und Chefin der konservativen Torys, Liz Truss, hat ihren Rücktritt bekanntgegeben. Sie werde noch bis zur Ernennung der Nachfolge im Amt bleiben, so Truss in einer kurzfristig angesetzten Pressekonferenz.

„Ich erkenne an, dass ich in dieser Situation das Mandat, mit dem ich von der Konservativen Partei gewählt wurde, nicht erfüllen kann“, sagte Truss. „Ich habe daher mit Seiner Majestät dem König gesprochen, um ihm mitzuteilen, dass ich als Vorsitzende der Konservativen Partei zurücktrete.“

Neuer Premier bis 31. Oktober angepeilt

In der nächsten Woche solle bereits die Wahl der neuen Parteiführung erfolgen. „Das wird sicherstellen, dass wir auf dem Weg bleiben, unsere finanzpolitischen Pläne umzusetzen und die wirtschaftliche Stabilität und die nationale Sicherheit unseres Landes zu erhalten“, sagte Truss.

Die konservative Tory-Fraktion will bis zum 31. Oktober einen neuen britischen Premierminister oder eine Premierministerin ins Amt heben. Das teilte Graham Brady, der Vorsitzende des mächtigen 1922-Komitees der Konservativen Fraktion im Unterhaus, am Donnerstag in London mit. Der einwöchige parteiinterne Wahlprozess über die Truss-Nachfolge soll bereits am Freitag der nächsten Woche (28. Oktober) enden. Brady sagte, auch die Parteibasis solle in den Prozess einbezogen werden. Wie das aussehen soll, war zunächst unklar.

Politikwissenschaftlerin: Johnson-Comeback möglich?

Der ehemalige Premierminister Boris Johnson denkt bereits über ein Comeback nach. Im Studio analysiert Politikwissenschaftlerin Melanie Sully die Situation.

Maximal drei Kandidaten möglich

Für die Truss-Nachfolge können höchstens drei Kandidaten antreten. Die potenziellen Nachfolger müssen von mindestens 100 Abgeordneten unterstützt werden, erklärte der Tory-Abgeordnete Graham Brady die Nachfolgeregelung am Donnerstag vor der Presse.

Die Nominierungen müssen bis Montagmittag erfolgen. Da es nur 357 konservative Abgeordnete gibt, können höchstens drei Kandidaten nominiert werden. Danach müssen sich die Angeordneten entweder auf zwei Kandidaten einigen, über die die 170.000 Parteimitglieder bis zum 28. Oktober in einer Onlineabstimmung entscheiden, oder sie bestimmen direkt einen Kandidaten, der in die Downing Street einzieht.

„Wir haben die Messlatte hoch gelegt, aber es ist für jeden ernsthaften Kandidaten (…) machbar“, erklärte Brady.

Medien: Johnson als Truss-Nachfolger?

Wer die Nachfolge antreten wird, ist unklar. Es gab zunächst keine klare Favoritin und keinen klaren Favoriten. Zu den potenziellen Anwärtern auf Truss’ Nachfolge zählen der ehemalige Finanzminister Rishi Sunak, der im Rennen um das Amt zuvor gegen Truss gescheitert war, sowie die ehemalige Innenministerin Suella Braverman, die am Mittwoch zurückgetreten war.

Auch Unterhaus-Chefin Penny Mordaunt und Ex-Premier Johnson, der laut der Zeitung „The Times“ im Namen des „nationalen Interesses“ eine Rückkehr in Betracht zieht, könnten antreten. Johnson hat noch immer in Teilen der Partei eine loyale Unterstützerbasis. In Umfragen unter Parteimitgliedern schnitt Johnson zuletzt wieder gut ab.

Der erst kürzlich ins Amt gekommene Finanzminister Jeremy Hunt lehnte Berichten zufolge eine Kandidatur umgehend ab.

Seit Mitte September um politisches Überleben gekämpft

Truss hatte erst vor etwa sechs Wochen die Nachfolge von Johnson angetreten, der nach mehreren Skandalen und Eklats auf Druck der eigenen Partei zurückgetreten war. Doch bereits seit Mitte September kämpfte Truss um ihr politisches Überleben im Amt, nachdem sie mit ihren Steuersenkungsplänen ein Fiasko auf den Finanzmärkten ausgelöst hatte und sich zu einer Kehrtwende gezwungen sah.

Finanzminister Jeremy Hunt
Reuters/Toby Melville
Der neue britische Finanzminister Jeremy Hunt

Erst am vorigen Freitag hatte Truss ihren Finanzminister Kwasi Kwarteng entlassen und durch den früheren Außenminister Hunt ersetzt. Hunt machte am Montag fast alle Bestandteile ihrer erst Ende September verkündeten Steuerpolitik rückgängig. Er kündigte an, die eigentlich für zwei Jahre vorgesehene Energiepreisdeckelung auf sechs Monate zu beschränken.

Unbeliebtestes Regierungsoberhaupt

Umfragen zufolge liegen die Konservativen etwa 30 Prozentpunkte hinter der oppositionellen Labour Party. Bei dem Forschungsinstitut YouGov ist Truss die unbeliebteste Regierungschefin seit Beginn der Erhebungen. Truss war in einem parteiinternen Votum mit 57,4 Prozent der Stimmen gewählt worden, ihr Rivale Sunak kam auf 42,6 Prozent.

Truss wird dem rechten Parteiflügel zugeordnet, sie konnte in dem internen Wahlkampf für die Nachfolge an der Parteispitze mit ihren Steuervorschlägen punkten. Außerdem sammelte sie bei der Parteibasis – die deutlich älter, männlicher und wohlhabender ist als der Durchschnitt der britischen Bevölkerung – Punkte mit einer konfrontativen Linie gegenüber der EU und populistischen Äußerungen zu Flüchtlingen, Linken, Umweltaktivisten und gesellschaftlichen Minderheiten. Truss galt einst als entschiedene Brexit-Gegnerin.

Parlamentarier bei heftiger Debatte in London
APA/AFP/Uk Parliament/Jessica Taylor
Liz Truss vor dem britischen Parlament am Mittwoch

Chaotische Szenen und Rangeleien im Parlament

Eine von der oppositionellen Labour Party anberaumte Abstimmung Mittwochabend im Parlament war für Truss völlig aus den Fugen geraten. Bei der Abstimmung über Fracking, bei der nicht klar war, ob sie auch eine Vertrauensfrage war, war es zu chaotischen Szenen und Rangeleien unter den Abgeordneten gekommen.

Der Labour-Antrag wurde zwar mit großer Mehrheit abgelehnt, doch viele konservative Abgeordnete sollen nur äußerst widerwillig gegen den Vorstoß gestimmt haben, der ein Gesetzgebungsvorhaben zum Fracking-Verbot einleiten sollte. Es gab auch eine ganze Reihe von Enthaltungen. Danach wurde von der Tory-Spitze mit Disziplinarmaßnahmen gedroht. Das hatte zu einem Aufschrei geführt.

Zwischenzeitlich sorgten am Mittwoch aber auch noch Berichte über Rücktritte in der Fraktionsspitze der Torys, Whips genannt, für Wirbel. Downing Street 10 sah sich am späten Abend schließlich zu dem ungewöhnlichen Schritt gezwungen, mit einer Erklärung klarzustellen, dass die beiden Whips weiter „im Amt“ seien.