Silhouetten von Menschen vor dem Houses of Parliament in London
Reuters/Henry Nicholls
Teuerung, Armut, Brexit

Britisches Politikchaos belastet Bevölkerung

Nur sechs turbulente Wochen lang hat sich Liz Truss im Amt der britischen Premierministerin halten können. Dem Land steht nun erneut die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin bevor. Dieses Politikchaos verschärft die ohnehin stetig schwieriger werdende Lage für die Bevölkerung. Sie leidet unter den Teuerungen, ein wachsender Anteil hat Probleme, die Rechnungen zu bezahlen. Ökonomen sprechen bereits von einer Rezession.

Die Inflation in Großbritannien lag im September bei 10,1 Prozent und bewegte sich damit nahe am 40-Jahres-Hoch. Für Oktober werden elf Prozent erwartet. Wie hierzulande werden die Menschen vor allem von hohen Energie- und Lebensmittelpreisen geplagt. Letztere wurden jüngst zum großen Preistreiber. Die Lebensmittel sind so teuer wie seit 42 Jahren nicht mehr. Besonders stark stiegen die Preise für Milchprodukte, Öle, Fette und Mehl. Die größte gemeinnützige Tafel des Landes schlug unlängst aufgrund des enormen Andrangs Alarm.

Die steigenden Energiepreise treffen die Bevölkerung ebenfalls äußerst hart. Das liegt einerseits an der großen Abhängigkeit von Gas, andererseits an besonders schlecht isolierten Häusern, so die London School of Economics. Organisationen befürchten, dass sich bei ausbleibenden Maßnahmen gegen die Energiepreise bis April rund elf Millionen Menschen das Heizen nicht mehr angemessen leisten können. Die stark gestiegenen Zinsen für Immobilienkredite verschärften die Krise für viele Menschen.

Jeder Vierte finanziell verletzlich

Die explodierenden Lebenserhaltungskosten bereiten immer mehr Menschen große Schwierigkeiten beim Bezahlen der Rechnungen. Wie die Finanzaufsichtsbehörde Financial Conduct Authority (FCA) am Freitag mitteilte, würden bereits nahezu acht Millionen Menschen ihre finanziellen Verpflichtungen als „schwere Belastung“ empfinden. Das seien um 2,5 Mio. Menschen mehr als noch 2020, sprich in der Anfangsphase der Pandemie.

Jeder vierte Erwachsene habe sich als finanziell verletzlich beschrieben, teilte die FCA weiter mit. Im Falle eines finanziellen Schocks würden sich diese Menschen in einer äußerst schwierigen Lage befinden. Etwa 4,2 Millionen Menschen hätten in drei von sechs Monaten ihre Rechnungen bzw. Kreditrückzahlungen nicht begleichen können.

Konsum dreimal schlechter als erwartet

Laut einer Befragung der Gewerkschaft Trades Union Congress spare schon jetzt die Hälfte bei Strom, Heißwasser und Heizung, eine von sieben Personen müsse gar eine Mahlzeit am Tag auslassen. Die Stimmung schlägt sich auch auf den Konsum nieder – mit weitreichenden Folgen. Die Einzelhandelsumsätze gingen im September stärker als erwartet um 1,4 Prozent zurück, wie das Statistikamt ONS am Freitag mitteilte. Das ist dreimal stärker als im Vorfeld prognostiziert. „Die Verbraucher kaufen jetzt weniger als vor der Pandemie“, sagte ONS-Experte Darren Morgan.

Rennen um Nachfolge nach Truss-Rücktritt

In Großbritannien hat Premierministerin Liz Truss nach 45 Tagen im Amt ihren Rücktritt angekündigt. Somit ist sie die Premierministerin, die in der Geschichte des Landes am kürzesten im Amt war. Das Rennen um die Nachfolge hat bereits begonnen.

Gemessen am Vorjahresmonat sank der Umsatz mit 6,9 Prozent so stark wie seit Mai 2020 nicht mehr. Dazu dürfte beigetragen haben, dass viele Geschäfte am Tag der Beisetzung von Königin Elizabeth II. geschlossen blieben. Doch zusätzlich habe der andauernde Preisdruck die Verbraucher dazu veranlasst, vorsichtig mit ihrem Geld umzugehen, sagte Morgan.

„Wirtschaft bereits in Rezession“

Mehrere Einzelhändler, darunter die größte britische Supermarktkette Tesco, haben im Oktober bereits Gewinnwarnungen veröffentlicht, da sie mit höheren Energie- und Personalkosten und dem schwachen Pfund zu kämpfen haben. „Insgesamt meinen wir, dass sich die Wirtschaft bereits in einer Rezession befindet und diese bis zum dritten Quartal 2023 andauern wird“, sagte Ökonom Thomas Pugh von der Steuer- und Beratungsfirma RSM UK.

Der Staat muss unterdessen mehr Kredite aufnehmen. Im September waren es 20,01 Milliarden Pfund (knapp 23 Mrd. Euro), wie das Statistikamt mitteilte. Das sind fast drei Milliarden mehr als von Ökonomen erwartet. Seit April summiert sich die Kreditaufnahme damit auf 72,5 Mrd. Pfund, was einem Rückgang von rund einem Viertel zum Vorjahreszeitraum entspricht, aber doppelt so hoch ist wie im Zeitraum April bis September 2019.

Das Defizit werde sich ausweiten, wenn die teuren Energiepreissubventionen der Regierung beginnen, sagte der stellvertretende Direktor des Institute for Fiscal Studies, Carl Emmerson. Die Landeswährung Pfund wertete nach der Veröffentlichung der jüngsten Wirtschaftsdaten gegenüber dem Dollar ab. Sie hatte zuletzt ein wenig von Truss’ Rücktritt profitiert.

Wirtschaftsprogramm als Sargnagel

Wie alle Staaten kämpft auch Großbritannien mit den geopolitischen Entwicklungen, doch die langen Schatten des Brexits und das innenpolitische Chaos verschärfen die Lage beträchtlich. Deutlich wurde das zuletzt an den Marktturbulenzen, die Truss’ radikales Wirtschaftsprogramm ausgelöst hatten.

Die Premierministerin und ihr damaliger Finanzminister Kwasi Kwarteng hatten die Finanzmärkte vor rund einem Monat ins Chaos gestürzt, als sie milliardenschwere, nicht gegenfinanzierte Steuerentlastungen ankündigten. Mit dieser hatte Truss „die Freiheiten des Brexits“ nutzen wollen. Doch die Märkte reagierten brutal und schickten den Kurs des Pfunds in den Keller. Daraufhin musste die Zentralbank mit Notanleihekäufen den Kollaps von Pensionsfonds verhindern. Nur wenige Tage später war das politische Schicksal der Tory-Spitze besiegelt.

„Isolierter Inselstaat im Atlantik“

International wurden die Entwicklungen mit Sorge kommentiert. Der „Economist“ ortete jüngst „italienische Verhältnisse“ in Großbritannien und stellte Truss auf dem Titelbild als Britannia mit Pizza als Schild und einer Gabel mit Spaghetti dar. Dazu die Worte: „Welcome to Britaly“. London habe sich seit dem Brexit von einer Führungsmacht in Europa zunehmend zu einem „isolierten Inselstaat im Atlantik“ entwickelt, urteilte die „Washington Post“.

Ein Großteil der Probleme sei dabei selbst verschuldet und eine Folge des Brexits. Dieser leitete ein „chaotische politische Ära ein, die von einer Reihe schlechter Regierungschefs geprägt war: der schwachen Theresa May, dem clownhaften Boris Johnson und der inkompetenten Frau Truss“. Letztere habe gleichzeitig viele Fehler ihrer Vorgänger ausbaden müssen, so das „Wall Street Journal“.

Brexit als „hohles und obsessives Mantra“

Die spanische Zeitung „El Mundo“ sieht unterdessen eine „Implosion“ der Torys. Der Brexit habe sich als „Sargnagel der Partei“, als „hohles und obsessives Mantra“ erwiesen. Keiner der Premiers hätte es seit dem EU-Austritt geschafft, die vollmundigen Versprechen des Brexits einzulösen. „Wer auch immer Truss’ Erbe antritt, läuft Gefahr, genauso schnell auszubrennen wie sie selbst, wenn der Brexit nicht endlich als das erkannt wird, was er ist: ein gescheitertes Projekt, das den Torys schwer geschadet und das Vereinigte Königreich ins Koma versetzt hat.“

Es gelte nun trotzdem, eine grundsätzliche Richtung zu finden, so die Schweizer „NZZ“: „Was wollen die Tories überhaupt für Großbritannien erreichen? Welches Großbritannien wollen sie gestalten? Auch wenn sich all die süßen Versprechungen der Brexit-Hardliner bisher nicht erfüllt haben und sich vielfach Ernüchterung breitmacht – der Austritt aus der EU ist eine Tatsache. Jetzt braucht es Politiker, die eine realistische und attraktive Vision für Großbritannien entwickeln und umsetzen.“ Krisen wie der Ukraine-Krieg würden zeigen, dass es weiterhin ein handlungsfähiges Großbritannien brauche, so die niederländische Zeitung „de Volkskrant“.