Zurück in die 70er

Mit Elfriede Jelinek in der Ramsau

Der Herbst 2022 ist die Zeit der großen Elfriede-Jelinek-Rückschauen. Rowohlt veröffentlicht eine „Lebensbilanz“ der Autorin, und bei der Viennale feiert eine große Filmbiografie ihre Österreich-Premiere. Daneben wird Jelineks Fernsehessay „Die Ramsau am Dachstein“ von 1976 einer breiteren Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. ORF.at bekam eines der raren Interviews der zurückgezogenen Nobelpreisträgerin.

Für Jelinek, die am 20. Oktober ihren 76 Geburtstag feierte, sind diese Tage keine Feiertage: Im Gespräch mit ORF.at hat sie den Tod ihres Mannes, Gottfried Hüngsberg, öffentlich gemacht. Mit Hüngsberg hatte sie seit 1974 eine konventionell-unkonventionelle Ehe zwischen Wien und München geführt. Er ist am 2. September verstorben. Mit ihm verlor sie auch den Arbeitspartner für ihr großes Schreibprojekt der letzten Jahrzehnte. „Er hat meine Homepage gestaltet, erstellt und betreut. Ich würde so gern eine Dankadresse an ihn darunter schreiben.“ Derzeit sei das nicht möglich.

Schmerzlicher Verlust

„Er hat ja wirklich viele tolle Sachen gemacht, nicht nur industrielle Entwicklungen“, so Jelinek zu ORF.at. Im München der ausgehenden 1960er Jahre stand ihr Ehemann dem Kreis um Regisseur Rainer Werner Fassbinder nahe. Für den Science-Fiction-Film „Welt am Draht“ von 1973 schrieb Hüngsberg nicht nur die Filmmusik. „Darauf hat er als Sci-Fi-Leser den Fassbinder erst gebracht“, meint Jelinek. Und in „Liebe ist kälter als der Tod“ von 1969, Jelineks Lieblingsfilm, wirkte Hüngsberg als Schauspieler mit.

Jelinek bereitet der Rückblick auf ihr Lebenswerk derzeit Schwierigkeiten: „Es fällt mir schwer, mich in meine Jugend zurückzuversetzen. Es ist auch schmerzlich, die Energie eines jungen Menschen als gebrochener alter Mensch zu sehen“, meint sie gegenüber ORF.at.

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Screenshot aus „Steckbrief" zeigt Hüngsberg und Jelinek
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Elfriede Jelinek und Gottfried Hüngsberg im Jahr 1974
Screenshot aus „Steckbrief" zeigt Hüngsberg und Jelinek
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Screenshot aus „Steckbrief" zeigt Hüngsberg und Jelinek
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Screenshot aus „Steckbrief" zeigt Hüngsberg und Jelinek
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Ein überraschendes Ja zum Interview

Das Ja von Jelinek zur Interviewanfrage im Juli kam eher überraschend: „Nur zwei, drei Fragen bitte. Ich mache wirklich eine Ausnahme, sonst mache ich das nicht.“ Seit der Nobelpreisverleihung 2004 hat sie sich „aus der Öffentlichkeit zurückgezogen“, wie es so schön heißt.

Sie schweigt – auf ihre beredte Art. Theaterstücke entstehen mindestens im Jahrestakt. Sie publiziert im deutschen Feuilleton, füllt ihre Homepage. Unermüdlich und hilfsbereit schreibt sie Vorwörter für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, unterstützt Publikationen und Verfolgte mit Wortspenden, unterschreibt Aufrufe.

Unmittelbarer Anlass für das Interview war die geplante Wiederveröffentlichung ihrer ersten (und einzigen) Fernseharbeit „Die Ramsau am Dachstein“ von 1976. Aus den „zwei, drei Fragen“ ist ein monatelanger E-Mail-Verkehr geworden, in dem bisweilen ihr sarkastischer Humor aufblitzt. „Langsam habe ich Verständnis für die Gedächtnisausfälle bei den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen“, schreibt sie etwa.

Jelinek 1973 in ihrer Wohnung
Friedrich, Brigitte / SZ-Photo / picturedesk.com
Elfriede Jelinek im Jahr 1973

Jelineks Fernsehdebüt 1976

Die Wiener sixpackfilm, Spezialisten für österreichische Avantgardfilme, haben sich heuer dieses Solitärs im umfangreichen Werk von Jelinek angenommen und präsentieren am 28. Oktober bei der Viennale ein Textkonvolut mit Downloadcode für das Video. Das Filmessay wird so einer größeren Öffentlichkeit wieder zugänglich.

Dietmar Schwärzler, der Geschäftsführer von sixpackfilm, und die Filmwissenschaftlerin Sylvia Szely haben den Film 2005 bei Recherchen im ORF-Archiv entdeckt. Schwärzler zeigt sich fasziniert vom musikalischen Sog der Jelinekschen Sprache: „Ein Film und einzelne Passagen wie ‚das ist eine schöne Landschaft‘, die sich in meinem Kopf festgeschrieben haben.“

Avantgardefilm im ORF

„Die Ramsau am Dachstein“ ist ein Stück Fernsehgeschichte. In den 1970er Jahren setzte der ORF zur besten Sendezeit seinem Publikum auch schon einmal schwer verdauliche Kost vor und gab jungen Filmschaffenden und Autoren die Gelegenheit, sich erstmals im Medium Fernsehen auszuprobieren – darunter später sehr bekannte Namen wie Karin Brandauer, Franz Novotny, Fritz Lehner und eben auch Elfriede Jelinek.

Für die Reihe mit dem ironischen Titel „Vielgeliebtes Österreich“ lud man gezielt junge Kunstschaffende ein, die mit einer bestimmten Region verbunden waren. Ein recht frühes Beispiel für Identitätspolitik, dem Jelinek einen Strich durch die Rechnung machte. „Ich kenne das Landleben ja nur von dem alten Bauernhaus, das mein Großvater in der Obersteiermark gekauft hat, als Sommerfrische (und im Winter zum Schifahren), ich bin Wienerin“, sagt Jelinek gegenüber ORF.at.

Folgerichtig bietet der Film einen Blick von außen. Jelinek analysiert einen Landstrich, der durch den Tourismusboom der 1970er recht schnell und plötzlich zu Wohlstand gelangt war. Ihre stilisierten Auftritte vor der Kamera unterstreichen diese Distanz. Ähnlich stark inszenierte Tableaus findet man im österreichischen Film später bei Ulrich Seidl.

Die Arbeit vor Ort – Jelinek führte wochenlang in der Ramsau Interviews und recherchierte – ist für die junge Autorin ungewöhnlich und sollte auch ein Einzelfall in ihrem umfangreichen Werk bleiben. Jelinek, damals gerade erst 30, geriet bei ihrem ersten Ausflug ins Fernsehfach gleich in einen – wenn auch lokal begrenzten – Sturm der Empörung.

Ein erster Skandal

Maßgebliche Ramsauer Tourismustreibende hatten sich vom ORF ein fremdenverkehrstaugliches Landschaftsidyll erwartet. Der ORF, Kummer mit sozialkritischen Berichten über das Leben am Land bereits gewohnt, schickte vorsorglich ein Team der ORF-Öffentlichkeitsarbeit unter der Leitung von Walter Schiejok in die Ramsau, um nach der Fernsehausstrahlung mit der Ramsauer Bevölkerung zu diskutieren.

Im zum Brechen vollen Gasthaus Knoll kam es zum großen Showdown zwischen den Einheimischen, Claus Homschak, dem Regisseur der Sendung, und Drehbuchautorin Jelinek. „Jedenfalls war diese Wut im Saal förmlich mit Händen zu greifen und wirkt bis heute bei mir nach“, erinnert sich Jelinek. Der Zorn habe sie unvorbereitet getroffen: „Damit hatte ich, naiv, wie ich war, nicht gerechnet“, erzählt sie, „ich habe wirklich gefürchtet, dass mich einer aus dem Publikum körperlich attackiert.“

Der Ramsauer Werbefachmann Helmut Strasser meint gegenüber ORF.at, dass hauptsächlich Gegner des Films, also die konservativen Meinungsmacher des Ortes, für die aggressive Stimmung im Saal gesorgt hätten: „Bürgermeister, Dorfmächtige, Jäger, Stammtischleute, die ÖVP.“

Es war die Volkspartei, die das Narrativ von der heilen Welt am Lande am lautesten verteidigte. Deren Mediensprecher Heribert Steinbauer sprang auf die – auch in den Zeitungen geführte – Debatte auf. Im parteipolitischen Kampf um den ORF kam die Aufregung gerade recht.

„Unterschwellige gesellschaftspolitische Steuerung“

„Die unterschwellige gesellschaftspolitische Steuerung in einer Reihe von Sendungen und Serien ist offenkundig“, verlautbarte der ÖVP-Pressedienst damals via APA, „der jüngste Fall ist nur scheinbar harmlos, nämlich die Sendung ‚Ramsau‘. Sie ist ein weiterer Punkt einer Anti-Bauern-Welle im ORF.“

Beim Fernsehpublikum – die Zuschauerzahl dürfte die Millionengrenze überschritten haben – hielt sich die Aufregung in Grenzen. Was allerdings bei den 277 Anrufen beim ORF-Kundendienst hervorsticht, ist der frauenfeindliche Tenor: Dass einer „alten Frau“, nämlich der Dienstmagd Josefa, dermaßen viel Raum gegeben wurde, bot Stoff für Aufregung, wie der Einsatz einer weiblichen Kommentatorin. Jelinek, die in den 70er Jahren einen ihrer wichtigsten Texte, den Roman „Die Liebhaberinnen“, veröffentlicht hatte, war dem breiten Publikum noch unbekannt.

Jelinek-Buchcover
Rowohlt

Elfriede Jelinek: Angabe der Person. Reinbek bei Hamburg, erscheint am 15. November 2022.

Jelinek bereiten die Nachwirkungen ihres Filmes in der Dorfgemeinschaft Sorgen. „Ich hoffe, die arme Josefa wurde nicht schikaniert (ich habe sowas läuten hören)“, erklärt sie gegenüber ORF.at, „aber immerhin konnte sie ihre Geschichte erzählen.“ In ihrem Werk hinterließ die Ramsau etliche Spuren: zwei Hörspiele mit der beeindruckenden Josefa als Zentralfigur.

Und in ihrem Internetroman „Neid“ findet das Zusammentreffen mit dem wütenden Mob ebenfalls seinen Niederschlag: „Rasende Bauern, die alle Hoteliers und Millionäre geworden waren, und dann sind alle gegen mich, mit all ihrem Geld, ihren Liften, Pisten, Schiställen, Apres–Ski–Ställen, Hüttenzauberern“, heißt es auf ihrer Homepage, „und die sind alle gegen mich aufgestanden, bis ich, schlotternd vor Angst, abgezischt bin. Das sagt nicht viel, denn ich fürchte mich vor allem. Und dennoch sage ich trotzig trotzdem (wie die Arbeiterbewegung!), weil ich es muss. Da ist der Wurm drin! Ich muss ihn nur noch finden!“

In der Ramsau 2022 zeigt man sich versöhnt mit dem Bild, das Jelinek zeichnete. Der Einschätzung Strassers nach ist eine jüngere Generation sogar stolz darauf, dass die prominente Autorin in der Ramsau Stoff für ihre Arbeit gefunden hat. Und der Ramsauer Bürgermeister Ernst Fischbacher berichtet ORF.at, er habe sich den Film jüngst mit „großer Freude“ im nahegelegenen Schladminger Klangfilmtheater angesehen.

Eine filmische Würdigung

Vielleicht ist der Ramsauer Paradigmenwechsel im Umgang mit Jelineks Werk auch beispielgebend für ganz Österreich. Die Etiketten der „Skandalautorin“ und „Nestbeschmutzerin“ stehen einer angemessenen Würdigung Jelineks in Österreich oft im Wege. Vielleicht braucht es einen Blick von außen, wie den der deutschen Regisseurin Claudia Müller, um Jelineks Verdienste ins richtige Licht zu rücken.

Müller hat mit filmischen Porträts der Medienkunstpionierin Valie Export (2015) und Modeschöpfer Helmut Lang (2016) bereits erhellende Einblicke in die Geschichte der österreichischen Avantgarde geliefert. Am 28. Oktober 2022 wird ihr Filmporträt „Elfriede Jelinek. Die Sprache von der Leine lassen“ bei der Viennale seine Österreichpremiere feiern. In München wurde das vielschichtige Werk bereits mit dem Preis der internationalen Filmpresse ausgezeichnet.

Anhand von Leben und Werk Jelineks (und mit Hilfe eines Rechtsbeistandes) durchpflügt Müller alle Tiefen und Untiefen der österreichischen Gegenwart: Geschichtsvergessenheit, Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, die Rolle der Frauen. Und man stellt fest: Anhand eines Jelinek-Werkverzeichnisses ließe sich ein Almanach der wichtigsten Themen der Zweiten Republik erstellen.

Regisseurin Müller orientiert sich ganz am Montagestil der Portraitierten. Ihr Film ist ein kunstvolles Geflecht von Aussagen und Texten Jelineks sowie Statements der von Jelinek Kritisierten, die sich sprachlich selbst entlarven.

Jelinek selber, stets respektvoll und solidarisch gegenüber Künstlerkollegen und -kolleginnen, zeigt sich angetan von dem Porträt, das gekonnt den von ihr in der Nobelpreisrede beschworenen „Schutz vor dem Beschriebenwerden“ einlöst: „Der Film ist sehr schön geworden. Man merkt die akribische Arbeit Claudia Müllers, die ja zwei Jahre penibel recherchiert hat, bevor sie zu drehen begonnen hat.“

Jelineks „Lebensbilanz“ bei Rowohlt

Auch Jelinek selbst hat sich wieder einmal ihrer eigenen Biografie als Stoff bedient. Am 15. November 2022 veröffentlicht der deutschen Rowohlt-Verlag eine Art „Lebensbilanz“ Jelineks, die die „Geschichte des jüdischen Teils ihrer Familie“ zum Inhalt haben soll. Eine kleine literarische Sensation? Jelinek hat seit 22 Jahren im deutschen Verlag ausschließlich Theatertexte veröffentlicht. Jelinek verneint gegenüber ORF.at die Trennung zwischen Prosa- und Theatertext: „Für mich sind die Stücke genauso Prosa wie die erzählende Prosa. Ich wollte immer, dass man die Stücke auch als Texte liest, aber das passiert halt nicht.“

Kenner und Kennerinnen dürfen hinter dem mehrdeutigen Ausdruck „Lebensbilanz“ wohl mit Recht sarkastische Fallstricke, doppelte oder gar mehrfache Böden und eine „Abrechnung“ mit der österreichischen Gangart in der Aufarbeitung der Nazizeit vermuten. Eines ist sicher: Altersmilde ist Jelinek nicht geworden, mit ungebrochenem Zorn widmet sie sich gesellschaftlichen Missständen. Oder wie es in einem der Mails an ORF.at lakonisch heißt: „Eine Schweinerei das Ganze. Herzlich, e.j.“