Frühere britische Premier Boris Johnson
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Truss-Nachfolge

Johnson kandidiert nun doch nicht

Der britische Ex-Premier Boris Johnson wird nun doch nicht erneut für das Amt antreten. Obwohl er die notwendige Unterstützung in der konservativen Tory-Fraktion habe, habe er sich dagegen entschieden, teilte der Politiker am Sonntagabend mit. Allerdings gibt es Zweifel, ob er die nötigen 100 Unterstützer tatsächlich hatte. Damit gilt Ex-Finanzminister Rishi Sunak als Favorit bei der Nachfolge der glücklosen Premierministerin Liz Truss.

Johnson hatte einen Karibik-Urlaub abgebrochen, um Samstagfrüh wieder in London zu sein. Verbündete kündigten dann seine erneute Kandidatur an. Johnson soll dem „Telegraph“ zufolge nun in seiner Partei herumtelefoniert und um Unterstützung geworben haben.

Laut Medien versuchte Johnson auch, mit Sunak und der ebenfalls kandidierenden Ministerin für Parlamentsfragen, Penny Mordaunt, über eine mögliche Zusammenarbeit zu sprechen. So kursierte etwa das Szenario, Johnson könnte einen Ministerposten erhalten. Die Gespräche sollen gescheitert sein, ohnehin dürfte das Verhältnis von Sunak und Johnson belastet sein: Sunak hatte mit seinem Rücktritt aus dem Johnson-Kabinett im Sommer maßgeblich dazu beigetragen, diesen zu Fall zu bringen.

Johnson bestätigte die Gespräche: „Ich hatte gehofft, dass wir uns im nationalen Interesse zusammenfinden könnten, aber leider waren wir nicht in der Lage, einen Weg zu finden, dies zu tun“, sagte Johnson.

Zweifel an Zahl der Unterstützer

Er habe beschlossen, nicht zu kandidieren, da das „einfach nicht das Richtige wäre“, denn „man kann nicht effektiv regieren, wenn man keine geeinte Partei im Parlament hat“, sagte Johnson nun Sonntagabend. Er werde demjenigen die Unterstützung zusagen, der die Nachfolge antritt. „Ich glaube, dass ich viel zu bieten habe, aber ich fürchte, dass das einfach nicht der richtige Zeitpunkt ist“, sagte der ehemalige Premierminister.

Johnson sagte, er habe 102 Unterstützer für eine Kandidatur gesammelt. Doch in britischen Medien wurden Zweifel laut. Der „Guardian“ sprach von 60 Unterstützungen. Schon während des gesamten Wochenendes wurde spekuliert, weil sich nur ein Teil der angeblichen Befürworter auch öffentlich gemeldet hatte.

Sunak nun großer Favorit

Sunak ist jetzt großer Favorit und könnte schon am Montag gekürt werden: Nach dem Rückzug Johnsons wechselten mehrere seiner prominenten Unterstützer ins Lager von Sunak. Außenminister James Cleverly schrieb am Montag auf Twitter, Sunak habe die größte Erfahrung und könne auf seine Unterstützung zählen. Am Sonntagabend hatte Ex-Minister Nadhim Zahawi auf Twitter geschrieben: „Ein Tag ist eine lange Zeit in der Politik. Nach den heutigen Neuigkeiten sollten wir uns Rishi Sunak als unserem nächsten Premierminister zuwenden.“

Auch die Abgeordneten Maria Caulfield und Jonathan Gullis wechselten Sky News zufolge vom Johnson- ins Sunak-Lager. Nach Zählung britischer Medien haben sich mittlerweile rund 160 konservative Abgeordnete öffentlich für den 42-Jährigen ausgesprochen. Innenminister Grant Shapps, der ebenfalls zu Sunaks Unterstützern gehört, sagte Montagfrüh im Sky-News-Interview, Sunak sei zwar entspannt, sei aber nicht der Meinung, dass er den Sieg schon „in der Tasche“ habe.

Bewerber benötigen 100 Unterstützer

Die Bewerber um Truss’ Nachfolge müssen bis Montag die Unterstützung von mindestens 100 der 357 Tory-Abgeordneten vorweisen. Das heißt, höchstens drei von ihnen können tatsächlich kandidieren. Danach müssen sich die Abgeordneten entweder auf zwei Kandidaten einigen, über welche die Parteimitglieder bis kommenden Freitag abstimmen, oder sie bestimmen direkt einen Kandidaten, der in die Downing Street einzieht.

„Großbritannien ist ein großartiges Land, aber wir sind in einer ernsthaften ökonomischen Krise. Deshalb möchte ich die Konservative Partei anführen und nächster Premierminister werden“, schrieb Sunak am Sonntag auf Twitter. Der 42-Jährige gilt als Favorit im Rennen um die Nachfolge der scheidenden Premierministerin Truss.

Großbritanniens Ex-Finanzminister Rishi Sunak
Reuters/Maja Smiejkowska
Ex-Finanzminister Sunak hat nun die besten Karten

Sunak war Anfang September im Rennen um die Johnson-Nachfolge gegen Truss unterlegen, die nun bereits nach gut sechs beispiellos chaotischen Wochen wieder aus dem Amt ausscheidet.

Politchaos verschärft Krise

Das politische Chaos verschärft die ohnehin stetig schwieriger werdende Lage für die Bevölkerung. Sie leidet unter den Teuerungen, ein wachsender Anteil hat Probleme, die Rechnungen zu bezahlen. Die Inflation in Großbritannien lag im September bei 10,1 Prozent und bewegte sich damit nahe am 40-Jahres-Hoch. Für Oktober werden elf Prozent erwartet. Wie hierzulande werden die Menschen vor allem von hohen Energie- und Lebensmittelpreisen geplagt. Letztere wurden jüngst zum großen Preistreiber. Die Lebensmittel sind so teuer wie seit 42 Jahren nicht mehr.

Großbritannien Premier Liz Truss
Reuters/Toby Melville
Truss’ Abgang nach nur sechs Wochen verschärft die Krise des Landes weiter

Die steigenden Energiepreise treffen die Bevölkerung ebenfalls äußerst hart. Das liegt einerseits an der großen Abhängigkeit von Gas, andererseits an besonders schlecht isolierten Häusern, so die London School of Economics. Organisationen befürchten, dass sich bei ausbleibenden Maßnahmen gegen die Energiepreise bis April rund elf Millionen Menschen das Heizen nicht mehr angemessen leisten können. Die stark gestiegenen Zinsen für Immobilienkredite verschärften die Krise für viele Menschen.

Jeder Vierte finanziell verletzlich

Die explodierenden Lebenshaltungskosten bereiten immer mehr Menschen große Schwierigkeiten beim Bezahlen der Rechnungen. Wie die Finanzaufsichtsbehörde Financial Conduct Authority (FCA) mitteilte, würden bereits nahezu acht Millionen Menschen ihre finanziellen Verpflichtungen als „schwere Belastung“ empfinden. Das seien um 2,5 Mio. Menschen mehr als noch 2020, sprich in der Anfangsphase der CoV-Pandemie.

Jeder vierte Erwachsene habe sich als finanziell verletzlich beschrieben, teilte die FCA weiter mit. Im Falle eines finanziellen Schocks würden sich diese Menschen in einer äußerst schwierigen Lage befinden. Etwa 4,2 Millionen Menschen hätten in drei von sechs Monaten ihre Rechnungen bzw. Kreditrückzahlungen nicht begleichen können.

Konsum dreimal schlechter als erwartet

Laut einer Befragung der Gewerkschaft Trades Union Congress spare schon jetzt die Hälfte bei Strom, Heißwasser und Heizung, eine von sieben Personen müsse gar eine Mahlzeit am Tag auslassen. Die Stimmung schlägt sich auch auf den Konsum nieder – mit weitreichenden Folgen. Die Einzelhandelsumsätze gingen im September stärker als erwartet um 1,4 Prozent zurück, wie das Statistikamt ONS mitteilte. Das ist dreimal stärker als im Vorfeld prognostiziert.

Rennen um Nachfolge nach Truss-Rücktritt

In Großbritannien hat Premierministerin Liz Truss nach 45 Tagen im Amt ihren Rücktritt angekündigt. Somit ist sie die Premierministerin, die in der Geschichte des Landes am kürzesten im Amt war. Das Rennen um die Nachfolge hat bereits begonnen.

Gemessen am Vorjahresmonat sank der Umsatz mit 6,9 Prozent so stark wie seit Mai 2020 nicht mehr. Dazu dürfte beigetragen haben, dass viele Geschäfte am Tag der Beisetzung von Königin Elizabeth II. geschlossen blieben. Doch zusätzlich habe der andauernde Preisdruck die Verbraucher dazu veranlasst, vorsichtig mit ihrem Geld umzugehen, sagte ONS-Experte Darren Morgan.

„Wirtschaft bereits in Rezession“

Mehrere Einzelhändler, darunter die größte britische Supermarktkette Tesco, haben im Oktober bereits Gewinnwarnungen veröffentlicht, da sie mit höheren Energie- und Personalkosten und dem schwachen Pfund zu kämpfen haben. „Insgesamt meinen wir, dass sich die Wirtschaft bereits in einer Rezession befindet und diese bis zum dritten Quartal 2023 andauern wird“, sagte Ökonom Thomas Pugh von der Steuer- und Beratungsfirma RSM UK.

Der Staat muss unterdessen mehr Kredite aufnehmen. Im September waren es 20,01 Milliarden Pfund (knapp 23 Mrd. Euro), wie das Statistikamt mitteilte. Das sind fast drei Milliarden mehr als von Ökonomen erwartet. Seit April summiert sich die Kreditaufnahme damit auf 72,5 Mrd. Pfund, was einem Rückgang von rund einem Viertel zum Vorjahreszeitraum entspricht, aber doppelt so hoch ist wie im Zeitraum April bis September 2019.

Das Defizit werde sich ausweiten, wenn die teuren Energiepreissubventionen der Regierung beginnen, sagte der stellvertretende Direktor des Institute for Fiscal Studies, Carl Emmerson. Die Landeswährung Pfund wertete nach der Veröffentlichung der jüngsten Wirtschaftsdaten gegenüber dem Dollar ab. Sie hatte zuletzt ein wenig von Truss’ Rücktritt profitiert.

Wirtschaftsprogramm als Sargnagel

Wie alle Staaten kämpft auch Großbritannien mit den geopolitischen Entwicklungen, doch die langen Schatten des Brexits und das innenpolitische Chaos verschärfen die Lage beträchtlich. Deutlich wurde das zuletzt an den Marktturbulenzen, die Truss’ radikales Wirtschaftsprogramm ausgelöst hatte.

Die Premierministerin und ihr damaliger Finanzminister Kwasi Kwarteng hatten die Finanzmärkte vor rund einem Monat ins Chaos gestürzt, als sie milliardenschwere, nicht gegenfinanzierte Steuerentlastungen ankündigten. Mit dieser hatte Truss „die Freiheiten des Brexits“ nutzen wollen. Doch die Märkte reagierten brutal und schickten den Kurs des Pfunds in den Keller. Daraufhin musste die Zentralbank mit Notanleihekäufen den Kollaps von Pensionsfonds verhindern. Nur wenige Tage später war das politische Schicksal der Tory-Spitze besiegelt.