Der Schriftsteller Cormac McCarthy
Beowulf Sheehan
16 Jahre nach „Die Straße“

Düster-orientierungslos mit Cormac McCarthy

Die Freude war bei vielen groß, als im März ein Doppelroman von Cormac McCarthy ankündigt wurde. Weltberühmt wurde der US-Autor durch „Die Straße“ (2006), im Jahr davor gab es viel Aufmerksamkeit für „No Country for Old Men", das von den Coen Brothers verfilmt wurde. Mit dem Roman „Der Passagier“, auf den im November „Stella Maris“ folgt, reist man erneut mit McCarthy in eine Welt voller Düsternis. Verstehen und Genießen werden dabei durchaus schwer gemacht.

Für leichte Kost war McCarthy nie bekannt: Schon das viel gelobte „Die Abendröte im Westen“ (1996) über die „Indianerkriege“ Mitte des 19. Jahrhunderts verstörte nicht nur mit teils unübersetztem Spanisch, sondern vor allem mit expliziter Grausamkeit und einer nur schwer zu ertragenden Gefühlskälte des Protagonisten. Der kühl-nüchterne Grundton blieb auch bei der pulitzerpreisprämierten „Die Straße“, diesmal angewandt auf ein zugespitzt (post)apokalyptisches Setting.

Vater und Sohn begeben sich darin auf eine verzweifelte Pilgerschaft durch eine zerstörte, entseelte Welt. Nur mehr ein paar Menschen sind übrig geblieben, Fragen von Gott und moralischer Integrität werden diskutiert. Was die beiden Romane einte, waren nicht nur Sprachgewandtheit, existenzielle Fragen und explizite Brutalität, sondern auch so etwas wie eine fesselnde kohärente Geschichte.

Apokalyptische Straßenszene mit umfallenden Kabelleitungen aus dem Film „The Road“, Literaturverfilmung Nach Dem Roman „Die Straße“ von Cormac McCarthy
IMAGO/Mary Evans
Welt nach der Katastrophe: McCarthys pulitzerpreisprämierte „Die Straße“ wurde verfilmt, mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle

Grundgefühl Orientierungslosigkeit

Nicht so „Der Passagier“, sein nicht weniger ambitionierter, mit 528 Seiten vergleichsweise dicker elfter Roman, mit dem McCarthy als mittlerweile 89-Jähriger sein Publikum überrascht. Wer hier verstehen will, dem wird einiges abverlangt: Das ebenfalls ziemlich düstere Buch besteht über weite Strecken aus (wie immer bei McCarthy nicht durch Anführungszeichen gekennzeichneten) Dialogen über Gott und Bohneneintöpfe, Physik und beiläufige Frauenverachtung („Du solltest sie mal ausführen. Sie verzehrt sich regelrecht nach einem Fick“). Nur ab und zu wird einem ein Halm mit handlungstreibendem Informationsgehalt gereicht. Wer sich auf das Grundgefühl der Orientierungslosigkeit nicht einlassen kann, bei dem mag sich also schnell so etwas wie Genervtheit einstellen.

Buchcover „Der Passagier“ von Cormac McCarthy
Rowohlt Verlag
Cormac McCarthy: „Der Passagier“. Rowohlt, 528 Seiten, 29,50 Euro.

Freakshow als Wahnvorstellung

Das Buch beginnt mit einer Art Vorspann. Ein Jäger findet eine erhängte junge Frau. Von dort aus wird in die Vergangenheit zurückgeblendet: Die Frau erhält Besuch von einem sprachverliebten, phrasendreschenden „Contergan-Zwerg“, der verschwörerisch-bedrohlich in ihrem Zimmer auf und ab „tigert“, zwischendurch in die „Flossen“ klatscht und von einem ganzen Tross varietespielender Gesellen begleitet wird, die vor der Tür warten.

Erst nach diesem Zusammentreffen getragen von andeutungsvoll-derbem Gebrabbel („Bum-bum-Zeit auf dem Savannah, Hannah. Übrigens auch reichlich Bräute bei der ganzen Chose, da können die Wissenschaftsweiber noch so jammern“) erfährt man, dass die Alicia genannte Frau die Schwester des Protagonisten ist. Noch später erfährt man, dass sie, eine ätherische Schönheit und geniale Mathematikerin, unter paranoider Schizophrenie litt, mit dem Zwerg als Wahnvorstellung. „Stella Maris“, das „Schwesternbuch“ von „Der Passagier“, das in einem Monat auf Deutsch erscheinen wird, soll sich ganz mit ihrer Psychiatriegeschichte auseinandersetzen.

Eine gute Prise Spannung

Im Zentrum von „Der Passagier“ steht dagegen Bobby Western, vom Typus klassischer McCarthy-Held, nachdenklich, schweigsam, von der Vergangenheit verfolgt. Western stand mit seiner Schwester in einem inzestuösen Liebesverhältnis, ihr Selbstmord hat ihn schwer gezeichnet zurückgelassen. Die familienbedingten Schuldgefühle werden durch die Hypothek eines Vaters ergänzt, der als Physiker im Team von Robert Oppenheimer an der Entwicklung der Atombombe arbeitete.

Buchcover „Stella Maris“ von Cormac McCarthy
Rowohlt Verlag
Im November erscheint das dünnere „Schwesternbuch“ „Stella Maris“. Rowohlt, 240 Seiten, 25,50 Euro.

Western, ein ehemaliger Formel-2-Rennfahrer mit großem Wissen in theoretischer Physik, ist Bergungstaucher von Beruf. Man lernt ihn anno 1980 kennen, als er im Golf von New Orleans nächtens ein abgestürztes Flugzeug mit acht Leichen birgt. Eine spannende Thrillerhandlung könnte sich hier ankündigen: Im Wrack fehlt nämlich nicht nur die Blackbox, sondern offenkundig auch ein neunter Passagier.

Western wird in der Folge zum Verdächtigen, der von zwielichtigen Agenten heimgesucht wird. Die diffusen Anschuldigungen, die an Franz Kafkas „Prozess“ denken lassen, berauben ihn sukzessive seiner Handlungsmöglichkeiten. Am Rande versucht er, der bedrohlichen Lage zu entkommen, vor allem hält sich der einsame Held bedeckt, reagiert zögerlich, erduldet einiges. Nur nachlässig verfolgt auch das Buch den Spannungsplot. Über zig Seiten fallengelassen gerät er zum beklemmenden Hintergrundrauschen.

Fachsimpeln über theoretische Physik

Die Handlung besteht im Wesentlichen darin, dass Western mit verschiedenen, teils schwer identifizierbaren Menschen spricht, mit Arbeitskollegen, seiner Großmutter, Leuten in der Bar und einem Privatdetektiv. Thematisch wird dabei die gesamte Bandbreite aufgewartet, vom Tratsch über den irrelevanten Onkel seines irrelevanten Kumpels über Philosophisches zum Verstreichen der Zeit bis zum 16 seitigen Fachsimpeln über theoretische Physik von der String- bis zur Kaluza-Klein-Theorie. Auf Vermittlungsarbeit für Fachfremde darf man – man hat es schon erraten – in dieser Hinsicht wenig hoffen.

Was bleibt, ist ein schlingerndes, düsteres, sprachgewaltig geschildertes Tableau einer im Zerbröseln begriffenen, von diffusen Bedrohungen regierten Welt. Die partielle Loslösung vom klassischen Plot mag man vielleicht auch als Destabilisierung von Wirklichkeit interpretieren. Die alptraumartigen Passagen zwischen der psychotischen Schwester Alicia und ihrem flossenklatschenden Zwerg, die immer wieder die Haupthandlung unterbrechen, passen thematisch dazu.

In seinem Alterswerk haut McCarthy also nochmal auf die ganz große Pauke – mit wenig Rücksicht darauf, ob ihm seine Leserschaft folgen kann. Die gute Nachricht: Hat man etwa die Hälfte des Buches geschafft, stellt sich ein gewisser Sog ein.