Leeres Redepult vor EU-Flaggen
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Technokratisches Blabla

So schwer verständlich ist die EU

Es ist kompliziert: Egal ob in Pressekonferenzen oder Aussendungen – wenn die EU-Kommission kommuniziert, wird es oft sehr schnell unverständlich. Dieser Eindruck wird auch von einer neuen Studie gestützt. Fachleute sehen Aufholbedarf, will die EU mehr Menschen erreichen und Skeptikern weniger Raum bieten. In der Kommission ist man sich des Problems zwar bewusst, schnelle Lösung gibt es aber keine.

Wenn die derzeitige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel vor das Sprecherpult tritt, klingelt es in diesem Moment in praktisch allen Postfächern von Journalistinnen und Journalisten in der EU-Hauptstadt. In einer Pressemeldung werden die wichtigsten Punkte der angesprochenen Themen aufgezählt, um möglichst schnell Überblick zu schaffen. Zumindest in der Theorie.

Denn ob Energiepreise, Klimakrise oder Coronavirus: Bei vielen Themen stehen Fachausdrücke und komplizierte Satzkonstrukte der eigentlichen Botschaft im Weg. Die gesamte EU muss sich häufig dem Vorwurf stellen, zu „technokratisch“ zu sein – in Hinblick auf die Sprache heißt das, dass fachliche Genauigkeit stets vorgeht.

Kommunikation wie „mit Experten“

Eine aktuelle Studie hat nun genau diesen Vorwurf untersucht – und untermauert den Eindruck. Wie der deutsche Politikwissenschaftler Christian Rauh in seiner Untersuchung schreibt, würden die Aussendungen der Kommission auf „extrem technokratische“ Sprache hindeuten. Und: Die Sprache der EU-Kommission habe sich in den vergangenen 35 Jahren kaum verändert – obwohl die EU vor allem in den vergangenen Jahren näher an die Bürgerinnen und Bürger gerückt ist.

Ursula von der Leyen
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Wenn die Kommissionspräsidentin spricht, landet bald eine Zusammenfassung im Postfach – nicht immer ist diese verständlich

Im Gespräch mit ORF.at sagt Rauh, dass die „Art und Weise wie die Europäische Kommission mit der Öffentlichkeit kommuniziert eigentlich näher am wissenschaftlichen Diskurs“ sei, also so, „wie Experten miteinander kommunizieren“. Während ihn dieses Ergebnis nicht überrasche, sei es „erschreckend“ gewesen, dass sich so wenig daran geändert habe – obwohl die Rolle der EU heute eine ganz andere sei, so Rauh.

Experte sieht mehr Interesse an EU

Es gebe heute deutlich mehr „kontroverse öffentliche Debatten“, oft geführt von politischen Parteien. Gleichzeitig sei es wesentlich umstrittener, welche Entscheidungen in Europa gemeinsam getroffen werden sollen. Das bedeute aber auch, dass „nicht mehr nur die Spezialisten in Regierungen oder von Interessengruppen“ die EU beobachten würden, sondern auch, dass es „den Durchschnittsbürger mehr interessiert, als das früher der Fall war“, so Rauh.

Um überhaupt bewerten zu können, was die Sprache der EU kompliziert macht, hat Rauh alle Presseaussendungen seit 1985 nach mehreren Gesichtspunkten untersucht. Darunter fallen etwa Satz- und Wortlänge und auch, wie selten Worte vorkommen, da die Presseaussendungen damit „für durchschnittliche Leser und Hörer einfach schwerer zu verstehen“ seien.

Schwierige Sprache als Abschreckung

Auch die britische Kommunikationsexpertin Laura Shields, die sich seit Jahren mit der Kommunikation der EU beschäftigt, sieht einen großen Graben zwischen der EU und Menschen außerhalb der „Blase“. Die Sprache, die die EU derzeit verwende, „ist alles andere als ein Brückenschlag“, sagt sie im Interview mit ORF.at. Verwende man „sehr anspruchsvolle, sehr begriffsschwere Sprache“, würden viele „schließen, dass die, die diese Sprache gegenüber ihnen verwenden, entweder auf sie herabschauen oder dass sie gar nichts besonders Interessantes oder Wichtiges zu sagen haben“.

Und das würde ein „Vakuum“ hinterlassen, in das Menschen mit „einer viel direkteren Sprache“ einfach „alles, was sie wollen, in die Debatte hineinprojizieren können“. Damit meine sie vor allem „Populisten in Europa, die wirklich klarer und einfacher kommunizieren als jede einzelne Europäische Institution“, so Shields.

EU-Kommission sieht Medien in der Pflicht

Eric Mamer, Chefsprecher der EU-Kommission und eines der prominentesten Gesichter in Brüssel, versteht die Kritik – sieht aber auch die Medien in der Pflicht. „Bürgerfreundliche, politische Botschaften durch Pressemitteilungen zu vermitteln, ist eine große Herausforderung. Und eigentlich wollen wir mit unseren Pressemitteilungen nicht direkt mit den Bürgern kommunizieren, sie sind für die Medien bestimmt“, sagt er gegenüber ORF.at.

Das Problem sieht er durchaus auch in der Aufgabe der Kommission begründet: Eines der Probleme sei, „dass wir eine Organisation sind, die sich mit sehr, sehr technischen Fragen befasst, und wo daher oft neben dem technischen Fachwissen auch politisches Fachwissen und Kommunikationsstrategien erforderlich sind, und die Verwaltung dieser drei Dimensionen ist an sich schon eine ziemliche Herausforderung“, so der Kommissionssprecher.

„Für mich als Fachmann stellt sich daher die Frage, ob unsere Pressemitteilungen es den Journalisten ermöglichen, ihre Arbeit richtig zu machen“, so Mamer weiter. Doch gerade das sei nicht immer der Fall, so der Politologe Rauh. Er wolle die Presse „nicht davon freisprechen“, dass sie ihren Lesern etwas erklären müsse. Doch auch im Vergleich mit Pressemitteilungen von nationalen Regierungen werde vonseiten der Kommission „deutlich unklarer kommuniziert“, so Rauh.

Kontrolle über Botschaft geht auf „externe Akteure“ über

Shields macht darauf aufmerksam, dass Journalisten oft überarbeitet seien und in der Lage sein müssen, „eine Geschichte unter Zeitdruck schnell zu erkennen und zu identifizieren.“ Technokratische Informationen könnten von Journalisten einfach nicht verwendet werden „weil sie keine Zeit haben“ oder weil auch die Journalisten die Informationen „nicht verstehen“. Auf diese Sorge macht auch Rauh in seiner Studie aufmerksam. Nicht zuletzt gebe die Kommission dadurch „eine Menge Kontrolle an externe Akteure ab“, so Shields.

EU Kommission
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Die EU könnte in ihrer Sprache den Eindruck hinterlassen, dass sie auf andere „herabschaut“, so Shields

Hinzu komme, dass zu viele Personen an einer einzelnen Presseaussendung beteiligt seien, so die Vermutung von Shields. Es gebe hervorragende Kommunikationsexperten in der Kommission, doch diese könnten nicht im Alleingang den Wortlaut bestimmen. Auch Rauh weist darauf hin, dass eine Pressemitteilung „durch sehr viele Hände“ gehe, bevor sie veröffentlicht wird. Das erkläre auch, „dass man am Ende so eine Art diplomatischen Konsens hat, der aber irgendwie keine klare Botschaft mehr transportiert“, so Rauh.

Hier brauche es einen Verantwortlichen mit dem Vertrauen der Kommissionspräsidentin, der praktisch die Qualität der Meldungen sicherstelle, stellt Shields eine mögliche Lösung in den Raum. Gegebenenfalls von Fachleuten hineinreklamierte Sätze könnten damit auch wieder gestrichen werden, um die Verständlichkeit zu wahren, sagt die Expertin.

Die Angst der EU vor dem Narrativ

Die Britin, die früher selbst als Journalistin für BBC und CNN im Einsatz war, sieht hinter der Kommunikation der EU aber auch die mögliche Angst vor Narrativen: Es fehle die Erklärung, „warum die jeweilige Gesetzgebung so wichtig ist“, so Shields. Sie glaube, dass „viele Experten dieses Gebiet nicht wirklich betreten wollen“. Denn sobald man anfange, „den Zweck, die Motivation und die Absicht zu erklären, wird man politischer“. Dabei sehe sie es eher als Aufgabe der Mitgliedsstaaten, getroffene Entscheidungen zu erklären, „was aber nicht der Fall ist“.

Mamer sieht das Problem vor allem darin, dass man in vielen Bereichen eher im Hintergrund arbeite. Man könne nicht ankündigen „wie viele Lehrer in Klassenzimmern stehen, wie viele Polizisten auf die Straße geschickt werden, und wie viel Geld dafür aufgewandt wird, um Spitäler aufzurüsten“. Die EU habe einen „eher indirekten Einfluss auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger“, man arbeite eher an „allgemeinen Rahmenbedingungen“, durch die die Wirtschaft gelenkt werden, so Mamer.

Sprach-Wirrwarr als zusätzlicher Faktor

Und eine weitere Besonderheit der EU hat zweifellos Einfluss auf die Kommunikation – auch wenn die Beurteilung hier zwischen Experten und Kommission auseinandergeht. „Fast niemand hat als Muttersprache Englisch“, sagt Mamer. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU ist Englisch für den Großteil der Union nur noch Zweitsprache. „Und dann müssen diese Pressemitteilungen in alle Amtssprachen der EU übersetzt werden, was die Sache natürlich nicht einfacher macht“, so Mamer.

Eric Mamer
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Von der Leyens Chefsprecher Mamer sieht auch die Sprachenvielfalt als Hürde

Rauh liegen dazu zwar keine konkreten Daten vor, er könne sich aber durchaus vorstellen, dass das eine Rolle spiele. Die Übersetzung in andere Sprachen sei ein „technischer Prozess“ – die englischen Aussendungen seien immer die Erstausgabe, es sei aber gut denkbar, dass Übersetzungen die Sache weiter verkomplizieren. Shields sagt, „jeder denkt und redet besser in der Muttersprache“, aber in ihrer Erfahrung sei „Sprache nie das Problem“ gewesen. Es gehe in erster Linie um die Vorbereitung und die richtige Denkweise – dem stehe im Weg, dass oft gezögert werde, wenn Details weggelassen werden sollten, so Shields.

Kommunikation als Sisyphusarbeit

Einigkeit zwischen Fachleuten und der EU-Kommission herrscht darüber, dass Kommunikation eine enorme Aufgabe ist. Shields sagt, es sei „tatsächlich unglaublich schwierig für alle Organisationen, Unternehmen und auch Einzelpersonen zu kommunizieren“, es handle sich um eine Fähigkeit, die sich entwickeln müsse.

Bestrebungen dafür gibt es: So existiert in der EU-Kommission eine eigene Abteilung für „verständliches Schreiben“. Mamer sagt: „Wir haben Kurse für klares Schreiben und wir versuchen mit den Übersetzungsdiensten zusammenzuarbeiten, aber es ist wie eine Sisyphusarbeit“, immer wieder müsse man von vorne beginnen. Er verweist darauf, dass vor allem online von der Kommission ein anderer Ton gepflegt wird – mit dem man ausdrücklich auch die Allgemeinheit erreichen will. Die in Rauhs Studie kritisierten Presseaussendungen seien heute „nur noch ein kleines, wenn auch wichtiges Werkzeug“, aber nicht mehr zentral für die Kommunikation.