Ukrainische Soldaten auf Patrouillie
Reuters/Zohra Bensemra
„Schmutzige Bombe“

Moskaus Vorwurf schürt Angst vor Eskalation

Seit Sonntag erhebt Moskau den Vorwurf gegen Kiew, eine radioaktiv verseuchte, „schmutzige“ Bombe zünden zu wollen. Belege dafür wurden keine vorgelegt, Russland will das Thema dennoch vor den UNO-Sicherheitsrat bringen. Die USA, Frankreich und Großbritannien bezeichneten die Behauptung als eindeutig falsch. Im Hintergrund wächst die Sorge, Russland könnte den Vorwurf als Vorwand für eine weitere Eskalation nutzen.

Am Dienstag will Russland nach Angaben aus diplomatischen Kreisen vor dem UNO-Sicherheitsrat den Vorwurf erheben, die Ukraine plane einen Anschlag mit einem mit radioaktivem Material versetztem Sprengsatz. „Wir werden den Einsatz einer ‚schmutzigen Bombe‘ durch das Kiewer Regime als einen Akt des Nuklearterrorismus betrachten“, schrieb Russlands UNO-Botschafter Wassili Nebensia in einem Brief an UNO-Generalsekretär Antonio Guterres und den Sicherheitsrat.

Nebensia forderte Guterres auf, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um „dieses abscheuliche Verbrechen zu verhindern“. Als „schmutzige Bombe“ werden konventionelle Sprengsätze bezeichnet, die auch radioaktives Material verstreuen.

IAEA-Kontrolle in Ukraine

Kiew hat eine Überprüfung durch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in zwei ukrainische Atomanlagen angefordert. Experten sollen den Vorwurf seitens Russland widerlegen, die Ukraine plane im Krieg den Einsatz einer „schmutzigen“ radioaktiven Bombe.

Mit dem Gang vor den UNO-Sicherheitsrat setzt Russland seine Propagandabemühungen fort. Am Sonntag hatte Verteidigungsminister Sergej Schoigu seinem französischen Amtskollegen Sebastien Lecornu in einem Telefonat „seine Besorgnis über mögliche Provokationen der Ukraine mit Hilfe einer ‚schmutzigen Bombe‘" übermittelt. Auch bei Gesprächen mit seinen Amtskollegen aus Großbritannien und der Türkei äußerte Schoigu die Befürchtung über eine „unkontrollierte Eskalation“ des Konflikts.

Westliche Atommächte: Vorwand für Eskalation

Die westlichen Atommächte Frankreich, Großbritannien und die USA wiesen Russlands Vorwurf zurück. Die Behauptung über eine „schmutzige Bombe“ sei eindeutig falsch, hieß es in einem gemeinsamen Statement der Außenminister der Länder. „Die Welt würde jeden Versuch durchschauen, diese Behauptung als Vorwand für Eskalation zu nutzen.“

UNO Sicherheitsrat
APA/AFP/Angela Weiss
Russland will das Thema vor den UNO-Sicherheitsrat bringen

Die britische Vertretung bei den Vereinten Nationen schrieb auf Twitter: „Zur Erinnerung: Die Ukraine hat keine Atomwaffen.“ Frühere russische Behauptungen, die Ukraine könnte etwa auf biologische Waffen zurückgreifen, hatten im Westen die Sorge geweckt, dass Moskau unter einer falschen Identität Taten begehen und dann Kiew dafür verantwortlich machen könnte. Russland erklärte, seine Streitkräfte auf den Einsatz unter Bedingungen radioaktiver Strahlung vorzubereiten.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief Russland dazu auf, seine „falsche Behauptung“ zu einer nuklear verseuchten Bombe nicht als Vorwand für eine weitere Eskalation des Krieges gegen die Ukraine zu nutzen. US-Außenminister Antony Blinken verwies darauf, dass Russland schon in der Vergangenheit Dinge getan habe, deren Planung man anderen vorgeworfen hätte.

Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, sagte, dass an der russischen Behauptung absolut nichts dran sei. Zugleich sehe die US-Regierung bisher aber auch keine Hinweise auf einen möglichen russischen Einsatz einer verstrahlten Bombe. Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bekräftigte, sein Land habe keine Entwicklung einer „schmutzigen Bombe“ geplant und habe das auch nicht vor.

Litauen: Aussagen ernst nehmen

Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis rief den Westen dazu auf, die russischen Aussagen ernst zu nehmen. Die Vorwürfe Moskaus könnten möglicherweise der Auftakt zu einer militärischen Eskalation sein, sagte Landsbergis. „Es erinnert sehr an Russlands Äußerungen im Vorfeld des 24. Februar“, sagte Landsbergis.

Vor dem Angriff auf die Ukraine seien von Moskau damals auch falsche Informationen über Chemiefabriken verbreitet worden, die angeblich in der Ukraine existierten. „Einige Partner nahmen es ernst, aber nicht unbedingt alle. Wir dachten, es ist nur eine Lügenkampagne Russlands, aber wir sehen, was daraus geworden ist“, sagte er.

Kreml beharrt auf Darstellung

Russland beharrte trotz scharfer westlicher Zurückweisungen auf der Behauptung. Die Weigerung der USA, das zur Kenntnis zu nehmen, sei angesichts einer solchen Gefahr inakzeptabel, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag. „Das ist ein Ansatz, der alles andere als seriös ist, ein Ansatz, der, so würde ich sagen, unangemessen ist angesichts der Schwere der Gefahr, über die wir hier sprechen.“

IAEA wird Atomanlagen inspizieren

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) bereitet sich indes darauf vor, in den kommenden Tagen Inspektoren zu zwei ukrainischen Standorten zu entsenden. Das teilte die IAEA in Wien am Montag auf Anfrage Kiews mit. Man sei sich „der Erklärungen bewusst, die die Russische Föderation am Sonntag über angebliche Aktivitäten an zwei Nuklearstandorten in der Ukraine abgegeben hat“, hieß es.

Karte zeigt Atomkraftwerke in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW

Die IAEA fügte hinzu, dass beide Standorte bereits Gegenstand von Inspektionen waren und einer vor einem Monat inspiziert wurde. „Die IAEA bereitet sich darauf vor, die Standorte in den kommenden Tagen zu besuchen“, hieß in einer Erklärung weiter.

Selenskyj: Moskau bereitet etwas Schmutziges vor

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief die Weltgemeinschaft zu entschlossenem Widerstand gegen eine weitere Eskalation des Krieges durch Russland auf. Wenn Moskau der Ukraine vorwerfe, eine „schmutzige Bombe“ werfen zu wollen, bereite es selbst irgendetwas Schmutziges vor, sagte er in seiner täglichen Videoansprache.

Er sprach von einem „Telefonkarussell“ Schoigus mit den Ministern der NATO-Staaten Frankreich, Großbritannien, der Türkei und den USA. „Wenn jemand in unserem Teil Europas Atomwaffen einsetzen kann, dann ist das nur einer – und dieser eine hat dem Genossen Schoigu befohlen, dort anzurufen“, sagte Selenskyj unter Anspielung auf Russlands Staatschef Wladimir Putin. Die Welt müsse klarstellen, dass sie nicht bereit sei, diesen „Schmutz“ zu schlucken.

Steinmeier in Schutzkeller

Die Kämpfe gehen indes weiter. Am Dienstag zwang ein Luftalarm im nordukrainischen Korjukiwka den deutschen Bundespräsidenten in einen Schutzkeller. Frank-Walter Steinmeier reiste in die Ukraine, um Selenskyj zu treffen. „Wir haben die ersten anderthalb Stunden im Luftschutzkeller verbracht“, sagte Steinmeier. Zuvor hatte er in der Hauptstadt Kiew dem ukrainischen Volk die unerschütterliche Solidarität Deutschlands zugesichert.