Lula hatte die erste Runde der Präsidentenwahl in dem größten Land Lateinamerikas am 2. Oktober überraschend knapp mit 48 Prozent vor Bolsonaro mit 43 Prozent gewonnen. Umfragen hatten einen deutlich größeren Vorsprung Lulas vorausgesagt und einen Sieg im ersten Wahlgang möglich erscheinen lassen. Nun dürfte es ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden.
Bolsonaro steht unter Druck: Er könnte der erste Präsident seit Einführung der zweiten Amtszeit 1998 sein, dem die Wiederwahl misslingt. Das politische Klima ist extrem polarisiert, der Wahlkampf wird mit harten Bandagen geführt. Bereits mehrfach kam es vor dem Hintergrund des Wahlkampfs zu politisch motivierten Gewaltakten.
Entscheidung in Brasilien
Am Sonntag entscheidet sich in einer Stichwahl, wer künftig Brasiliens alter und neuer Präsident ist: der rechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro oder sein linker Herausforderer und Vorvorvorgänger Luiz Inacio Lula da Silva. Das Rennen ist völlig offen.
Stimmungsmache mit religiösen Themen
Vor allem mit religiösen Themen schießen sich die Lula-Gegner in den sozialen Netzwerken auf den linken Kandidaten ein. Lula sei ein Satanist, hieß es zigfach geteilt auf TikTok, während vonseiten der Bolsonaro-Familie vor allem Gerüchte genährt werden, Lula würde im Falle eines Wahlsiegs Kirchen schließen, Predigten verbieten, den evangelikalen Glauben kriminalisieren oder den Namen Jesu aus der Bibel streichen wollen.
Aber auch gegen Bolsonaro gerichtete Attacken setzen auf religiöse Themen und evangelikale Moralvorstellungen. Kurz nach dem ersten Wahlgang machte ein Video von Bolsonaro die Runde, das ihn bei einer Veranstaltung der Freimaurerloge zeigen sollte – ein Bund, der in evangelikalen Kreisen auf Ablehnung stieß. Auch wenn sich das Video als alt entpuppte und aus Zeiten stammte, in denen Bolsonaro noch ein unbedeutender Hinterbänkler war, wurde es hunderttausendfach geteilt und heizte die Stimmung an.
Pakt mit dem Teufel, Pädophilievorwürfe
In den sozialen Netzwerken kursierten absurdeste Gerüchte – etwa dass Lula einen Pakt mit dem Teufel eingegangen sei. Aufgrund der großen Verbreitung sah sich der linke Kandidat dazu genötigt, das in einer TV-Debatte öffentlich zu dementieren.
Bolsonaro wiederum sprach in einem Interview von der angeblichen Anziehung zwischen ihm und venezolanischen Teenagern, die er für Prostituierte hielt – es folgte ein Sturm der Entrüstung. Eigentlich wollte der rechte Staatschef wohl davor warnen, Brasilien könnte im Falle eines Wahlsiegs von Lula das gleiche Schicksal drohen wie dem sozialistischen Krisenstaat Venezuela. Doch das ging nach hinten los: Die Lula-Seite verbreitete das Video genüsslich im Internet, und Bolsonaro musste schließlich beteuern, er sei kein Pädophiler.

Die Themen Sex, Gewalt und Gender gehören eigentlich zu den Klassikern im Waffenarsenal von Bolsonaros Internettrollen. Sein Sohn Carlos orchestriert den Infokrieg in den sozialen Netzwerken und stützt sich dabei auf die Anhänger des Präsidenten, aber auch auf Bots. Die Hälfte der Retweets zur Unterstützung Bolsonaros am ersten offiziellen Wahlkampftag im August stammten von automatisierter Software, stellten Wissenschaftler fest. Bei Lula waren es etwa 25 Prozent.
Wahlbehörde versucht, Falschinformationen einzudämmen
Erst zehn Tage vor der Stichwahl verabschiedete die höchste Wahlbehörde des Landes neue Regeln, um Desinformation im Wahlkampf einzuschränken. Das Oberste Wahlgericht TSE verpflichtete die Betreiber von Onlinemedien dazu, als falsch eingeschätzte Inhalte binnen zwei Stunden zu entfernen.
Seit Beginn des Wahlkampfs für die Stichwahl habe es „eine starke Ausbreitung von nicht nur falschen Informationen, sondern auch von Aggressivität in diesen Informationen, von Hassrede“ gegeben, begründete TSE-Chef Alexandre de Moraes den Schritt.
Wahl in Brasilien: Bolsonaro gegen Lula
Am Sonntag entscheidet sich in einer Stichwahl, wer künftig Brasiliens alter und neuer Präsident ist: der rechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro oder sein linker Herausforderer und Vorvorvorgänger Luiz Inacio Lula da Silva. Das Rennen ist völlig offen – und die beiden Kandidaten schenken einander nichts im erbitterten Wahlkampf, der geprägt war von bizarren Falschinformationen und gegenseitigen Beschuldigungen unter der Gürtellinie.
Warnung vor „Zersetzung der Demokratie“
Die Falschinformationen hätten eine „Zersetzung der Demokratie“ zur Folge, warnte Moraes, der sich mit Vertretern der Wahlkampfteams von Bolsonaro und Lula traf. Zuvor hatte er mit Vertretern von Facebook, Instagram, WhatsApp, Google, TikTok, Telegram und YouTube gesprochen. Für jede Stunde, die betreffende Inhalte länger als die festgelegten zwei Stunden online bleiben, wurde eine Strafe zwischen 100.000 und 150.000 Real (20.000 bis 29.000 Euro) festgelegt.
Das TSE verlangte zudem, dass die beiden Wahlkampfteams eine Reihe von im Internet veröffentlichten Botschaften beseitigen. So sollte Bolsonaros Team Videos entfernen, die Lula in die Nähe von Abtreibungsbefürwortern und Drogen rückten und ihm vorwarfen, Kirchen schließen zu wollen. Lulas Lager musste Material löschen, das den rechtsextremen Präsidenten in Verbindung zu Kannibalismus und Pädophilie bringt.
Fokus auf Unentschlossene
Um die Stichwahl nun zu gewinnen, braucht Lula vor allem das Vertrauen der Unentschlossenen in der Mitte. Mit seinem früheren Kontrahenten Gerardo Alckmin als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten hat Lula bereits einen Vertreter des bürgerlichen Lagers ins Boot geholt. Dem moderaten Alckmin wird auch zugetraut, im Falle eines Wahlsiegs von Lula in der Stichwahl im politischen Brasilia Mehrheiten zu organisieren.
Lula regierte Brasilien bereits von 2003 bis 2010. Wegen unterschiedlicher Korruptionsskandale auch im Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal wurde er inhaftiert und verbrachte 2018 und 2019 insgesamt 18 Monate im Gefängnis. Seine Verhaftung war damals umstritten. Vergangenes Jahr wurden die gegen ihn verhängten Urteile vom Obersten Gerichtshof Brasiliens aus formalen Gründen aufgehoben.
Seit 2021 wieder auf WFP-Hungerkarte
Bolsonaro kam bei der Präsidentenwahl 2018 als Außenseiter an die Macht. Seine Anhänger mögen seinen radikalen Stil, seine Angriffe auf das „Establishment“ und seine Auftritte in Social Media. Seine Kritiker halten Bolsonaro vor, er habe wenig vorzuweisen außer hasserfüllte Sprüche, Missmanagement der Coronavirus-Pandemie und eine verheerende Umweltbilanz.
Unter Bolsonaros Führung wurde nicht nur die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes vorangetrieben, auch der Hunger kam zurück nach Brasilien. Das Land stand 2021 wieder auf der Hungerkarte des Welternährungsprogramms (WFP), weil rund 29 Prozent der Bevölkerung in „mittlerer oder schwerer Ernährungsunsicherheit“ leben. Mit seinen Erlässen hat der Staatschef und Ex-Militär zudem den Zugang zu Schusswaffen stark erleichtert. Inzwischen gibt es fast doppelt so viele private Waffenbesitzer wie Polizisten.