Russische Soldaten am Bahnhof
AP
300.000 Reservisten

Kiew erwartet weitere Mobilisierung Moskaus

Gerade hat der Kreml das Ende der russischen Teilmobilisierung verkündet, doch die Ukraine geht davon aus, dass bald weitere folgen könnten. An der Offensivfähigkeit der russischen Armee wird inzwischen allerdings gezweifelt. Die Kämpfe gehen dennoch unvermindert weiter. Nahe Saporischschja wurde das Hotel von ORF-Reporter Christian Wehrschütz getroffen – er und sein Team blieben unverletzt.

Das Hotel in Nikopol in der Region Dnipropetrowsk, in dem Wehrschütz mit seinem Team untergebracht war, war in der Nacht auf Samstag von russischen Granaten beschossen worden. Verletzt wurde niemand, wie Wehrschütz dem ORF-Radio bestätigte. Das Dach des Hotels sei zerstört, auch Zimmer wurden beschädigt, darunter jenes des Produzenten. Inzwischen sei man wieder bei der Arbeit, so Wehrschütz im Ö1-Mittagsjournal. Er habe nach dem Angriff fünf Kerzen angezündet.

Der Leiter der Militärverwaltung der Region Dnipropetrowsk, Walentyn Resnitschenko, bestätigte den Beschuss des Bezirks Nikopol. „Die Russen eröffneten das Feuer auf drei Gemeinden: Nikopol, Marhanez und Tscherwonohryhoriwka. Die Menschen blieben unverletzt“, schrieb Resnitschenko auf Telegram, wie die Nachrichtenagentur Ukrinform meldete. Seinen Worten zufolge wurden in der Stadt Nikopol Dutzende Wohnblocks und Einfamilienhäuser beschädigt, auch Stromleitungen wurden unterbrochen. Die Lage habe sich später beruhigt.

Wehrschütz (ORF) zu Beschuss in Nikopol

In der Nacht ist Nikopol angegriffen worden, auch das ORF-Team rund um Korrespondent Wehrschütz war betroffen.

Die Ukraine bereitet sich unterdessen auf weitere Einberufungswellen Moskaus vor, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Nacht in seiner Videobotschaft sagte. Moskau werde noch mehr Reservisten brauchen, meinte er mit Blick auf den Widerstand der Ukraine und den Verlust in den Reihen russischer Soldaten. Selenskyj reagierte damit auf das in Moskau von Verteidigungsminister Sergej Schoigu verkündete Ende der Einberufung von 300.000 Reservisten für den Krieg in der Ukraine.

Experte sieht große Probleme für Russland

Der Militärexperte Niklas Masuhr sieht inzwischen schwere Probleme auf Russland zukommen. Desolate Truppenmoral und Waffenmangel stellten Russland im kommenden Winter vor große Probleme. „Auch ohne Einwirkung der Ukrainer wird der Winter eine große Herausforderung für die Russen“, sagte der Forscher am Center for Security Studies der Universität ETH in Zürich der dpa. „Für die Russen geht es noch darum, sich über den Winter einzugraben. Die Truppen sind in so schlechtem Zustand, dass nicht klar ist, ob sie das schaffen.“

Die Versorgung der Truppen an der Front werde im Winter schwerer, das drücke weiter auf die Moral unter den Soldaten, die schon am Boden liege. „Die russische Offensivfähigkeit in der Ukraine ist gebrochen, weitere Vorstöße sind eher unwahrscheinlich“, sagte er. „Russland hat auf Defensivmodus geschaltet.“ Gleichzeitig gebe es keine Anzeichen, dass die jüngste Terrorkampagne mit Raketen- und Drohnenangriffen die Ukrainer eingeschüchtert habe oder ihnen der Schwung ausgehe.

Kein Erlass für Ende der Mobilmachung

Er sehe täglich Berichte von mobilisierten russischen Truppen, die sich weigerten, in den Kampf zu gehen, und von Kommandeuren, die Untergebene mit Waffengewalt an die Front zwingen müssten. In den Verbänden fehle es an Zusammenhalt, weil die Truppen mittlerweile zusammengewürfelt seien, teils mit regulären Soldaten, teils mit Häftlingen und anderen jungen und alten Zwangsrekrutierten.

Ukrainische Soldaten bei Cherson
APA/AFP/Bulent Kilic
Auch die Vorstöße der ukrainischen Armee, hier bei Cherson, stocken

Tatsächlich verließen zahllose Russen aus Angst, eingezogen zu werden, bereits das Land. Von manchen wurde das offizielle Aus der russischen Mobilmachung als List gewertet, um wehrfähige Männer wieder zurück nach Russland zu locken. Experten warnen aber vor einer Rückkehr nach Russland, weil das Ende einer Teilmobilmachung noch durch einen Erlass des Präsidenten besiegelt werden müsse. Das ist bisher nicht geschehen.

Auch Ukraine-Vorstöße stocken

Experte Masuhr sprach auch über ins Stocken geratene Vorstöße der ukrainischen Seite. Das erkläre sich aus der Angriffsstrategie. Die Ukrainer hätten zunächst dort angegriffen, wo abgenutzte russische Truppen weites Gelände zu verteidigen hatten. Er hielt eine ukrainische Offensive im Gebiet Cherson im Südosten nicht für aussichtslos. Ein Erfolg dort sei politisch und militärisch bedeutsam, weil er die russischen Truppen im Süden und Osten trennen und neue Vorstöße im Süden unmöglich machen würde.

Zudem gingen bei den Russen die Präzisionswaffen zur Neige. Ihnen fehle westliche Mikroelektronik für die weitere Produktion, die die Regierung auch über Schwarzmärkte nicht im nötigen Umfang und zu bezahlbarem Preis besorgen könne. Gleichzeitig stärkten westliche Waffenlieferungen die Ukraine.

Brieger: „Sanktionen hinterfragen, ist kontraproduktiv“

Der Leiter des EU-Militärausschusses, der frühere Generalstabschef Robert Brieger, sieht den Krieg in der Ukraine als „Abnutzungskrieg“. Sein Verlauf hänge von Ressourcen ab, der Moral der kämpfenden Truppen und von der Hilfe von außen, wie er am Samstag in der ORF-Radioreihe „Journal zu Gast“ sagte.

Dass in der EU immer wieder Stimmen laut werden, die Sanktionen gegen Russland seien anzuzweifeln, kritisierte Brieger. Die Bereitschaft, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, schwinde wegen der „Begleiterscheinungen“ des Krieges, etwa durch Inflation und Energiekrise. Die Sanktionen aber hätten deutliche Wirkung in Russland, das zeige sich in der Produktion ziviler Güter und der Abwanderung von IT-Experten. Die Maßnahmen „zeitigen langfristige Wirkung, von dem jetzt abzugehen, würde die gesamte strategische Absicht hinterfragen und letztlich auch zum Erliegen“ bringen, so Brieger. Die Herausforderung liege darin, die „Notwendigkeiten schlüssig zu kommunizieren“.