Getreideschiff an Hafen
Reuters/Valentyn Ogirenko
Getreidedeal gekippt

Ukraine fordert Konsequenzen

Russland hat am Samstag das von der UNO und der Türkei vermittelte Abkommen mit der Ukraine zum Schiffsexport von Getreide offiziell ausgesetzt und den Schritt mit ukrainischen Angriffen auf die russische Schwarzmeer-Flotte begründet. Kiew sah darin einen „falschen Vorwand“ und forderte im Gegenzug von der UNO und den G-20-Staaten „Konsequenzen“. Die UNO will die Hoffnung auf ein Fortbestehen des Abkommens noch nicht aufgeben.

Per Brief an UNO-Generalsekretär Antonio Guterres kündigte Russland am Samstag das Abkommen einseitig auf. Wegen Drohnenangriffen auf russische Schiffe aus dem geschützten Korridor im Schwarzen Meer könne Russland „die Sicherheit von zivilen Schiffen, die im Rahmen der oben genannten Initiative reisen, nicht garantieren“, schrieb der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensja an Guterres. Moskau hatte bereits zuvor von ukrainischen Drohnenangriffen auf Schiffe der Schwarzmeer-Flotte gesprochen. Ein Minenräumschiff und Anlagen in einer Bucht seien leicht beschädigt worden, hieß es aus dem russischen Verteidigungsministerium.

Die ukrainische Regierung reagierte empört – sowohl auf den russischen Schritt als auch dessen Begründung. Kiew warf seinerseits Moskau vor, die Angriffe auf eigene Einrichtungen erfunden zu haben. Der ukrainische Präsidentenberater Andrij Jermak sprach von „fingierten Terrorattacken“. Moskau blockiere unter einem Vorwand die Transporte, „die Lebensmittelsicherheit für Millionen Menschen bedeuten“, erklärte Außenminister Dmytro Kuleba am Samstagabend auf Twitter. „Ich rufe alle Staaten auf, zu fordern, dass Russland seine ‚Hunger Games‘ stoppt und sich wieder an seine Verpflichtungen hält.“

ZIB-Korrespondent Krisai aus Moskau

Paul Krisai spricht über mögliche Gründe für Russlands Ausstieg aus dem Getreidedeal mit der Ukraine.

Kiew sieht UNO am Zug

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte eine scharfe Reaktion der UNO und der G-20-Staaten. Russland verursache mit diesem Schritt Hungersnöte in Afrika, dem Nahen Osten und Südasien, so Selenskyj in einer Videobotschaft. Die Gruppe wichtiger Industrie- und Schwellenländer (G-20) solle Russland ausschließen, forderte Selenskyj. Der G-20 gehören neben mehreren westlichen Ländern unter anderem auch China, Indien und Brasilien an.

Selenskyjs Sprecher Serhij Nykyforow spielte den Ball in Richtung der beiden Parteien, unter deren Ägide das Abkommen ausverhandelt wurde. Die Ukraine habe die Vereinbarung nicht mit Russland, sondern mit den Vereinten Nationen und der Türkei geschlossen, sagte er. Kiew warte also auf deren Reaktion.

UNO: Stehen in Kontakt mit russischen Behörden

Die Vereinten Nationen wollten am Samstag die Hoffnung auf ein Fortbestehen des Deals trotz der Äußerungen aus Moskau noch nicht aufgeben. „Wir stehen mit den russischen Behörden in dieser Sache in Kontakt“, sagte ein UNO-Sprecher in New York. „Es ist unerlässlich, dass alle Seiten jegliche Handlungen unterlassen, die das Getreideabkommen gefährden, das eine entscheidende humanitäre Anstrengung ist, die eindeutig einen positiven Einfluss auf den Zugang zu Lebensmitteln für Millionen von Menschen weltweit hat.“ Der Sprecher hatte sich allerdings noch geäußert, bevor Moskau die Aufkündigung per Brief offiziell machte.

Das vor drei Monaten ausgehandelte Abkommen sollte den weltweiten Anstieg der Getreidepreise dämpfen. Seitdem Russland und die Ukraine am 22. Juli das Abkommen unterzeichnet haben, wurden mehrere Millionen Tonnen Mais, Weizen, Sonnenblumenprodukte, Gerste, Raps und Soja aus der Ukraine exportiert. Russland hatte zwar schon seit Wochen mit einem möglichen Stopp des Abkommens gedroht. Vertreter der UNO hatten sich aber noch am Mittwoch zuversichtlich gezeigt, dass die ursprünglich auf 120 Tage begrenzte Vereinbarung über Mitte November hinaus verlängert werden könne.

Der russische Agrarminister Dmitri Patruschew erklärte nun, sein Land sei bereit, arme Länder in den kommenden vier Monaten mit insgesamt 500.000 Tonnen Getreide zu versorgen. „In Anbetracht der diesjährigen Ernte ist die Russische Föderation vollumfänglich bereit, ukrainisches Getreide zu ersetzen und mit erschwinglichen Preisen alle daran interessierten Länder zu beliefern“, sagte Patruschew.

Scharfe Kritik aus Großbritannien und den USA

Mit scharfer Kritik reagierten am Samstag auch Großbritannien und die USA. US-Präsident Joe Biden nannte das russische Vorgehen empörend und betonte, dass es für mehr Hunger auf der Welt sorgen werde. „Russland setzt Nahrungsmittel erneut als Waffe in dem Krieg, den es begonnen hat, ein“, kritisierte US-Außenminister Antony Blinken. Er rief die russische Regierung dazu auf, wieder die Vereinbarung zur sicheren Passage ukrainischer Getreidetransporte einzuhalten.

US-Kritik an russischer Getreideblockade

Die USA haben die neue russische Blockade von Getreideexporten aus der Ukraine kritisiert und eine Wiederaufnahme der Lieferungen gefordert. Präsident Joe Biden nannte das Vorgehen Moskaus empörend und betonte, dass es für mehr Hunger auf der Welt sorgen werde.

Briten zu russischer Darstellung: „Frei erfunden“

Die russische Regierung hatte in ihren Anschuldigungen auch Großbritannien mitverantwortlich für die angeblichen Angriffe auf die russische Schwarzmeer-Flotte gemacht. Überdies sei Großbritannien auch an den „Nord Stream“-Explosionen Ende September beteiligt gewesen, hieß es aus dem russischen Verteidigungsministerium. Das wurde von London empört zurückgewiesen.

„Um von ihrem katastrophalen Umgang mit der illegalen Invasion in der Ukraine abzulenken, greift das russische Verteidigungsministerium auf die Verbreitung falscher Behauptungen epischen Ausmaßes zurück“, kommentierte das Verteidigungsministerium in London die Anschuldigungen. „Diese erfundene Geschichte sagt mehr über Streitigkeiten innerhalb der russischen Regierung aus als über den Westen. Die britische Marine besitzt gar nicht die Fähigkeit, die Gasleitungen zu sprengen“, sagte der frühere Royal-Navy-Admiral Chris Parry dem Sender Sky News.

Ukraine will Krim zurückerobern

Die Ukraine hat wiederholt erklärt, die von Russland seit 2014 besetzte Krim zurückerobern zu wollen. Die Stadt Sewastopol auf der Halbinsel ist für Moskau als Basis der Schwarzmeer-Flotte wichtig. Immer wieder wird die Halbinsel auch von Explosionen erschüttert, für die Russland die Ukraine verantwortlich macht. Kiew schweigt dazu meist. Am 8. Oktober etwa war die für den Nachschub der russischen Invasionstruppen in der Ukraine wichtige Kertsch-Brücke zwischen Russland und der Krim durch eine Explosion schwer beschädigt worden.