Junge Menschen im Herbst auf einem Fußballtor sitzend und darunter stehend
Georges Schneider / picturedesk.com
Österreichs Milieus

Abschied von der gemeinsamen Mitte

Der Gesellschaft geht zwar nicht das verloren, was man die „Mitte“ nennt. Doch diese spaltete sich in immer größere Gruppen auf, die teilweise untereinander nicht mehr so gut anschlussfähig sind. Soziale Veränderungen, Digitalisierung und externe Krisen, die auch über Österreich hereingebrochen sind, verändern die Zusammensetzung der Gesellschaft. Einmal mehr stehe auf dem Spiel, das Allgemeine, den Universalismus für das gemeinsame Handeln, neu zu definieren, sagt auch der Politologe Omri Boehm in einem neuen Buch.

„Identitätspolitik“ gegen „Universalismus“: So fasst Boehm in seinem neuen Buch „Radikaler Universalismus“ die Frontstellungen in der Gegenwartsgesellschaft zusammen. Der Anspruch auf das Allgemeine sei unter Druck gekommen, so Boehm, weil er „als Maske wahrgenommen“ worden sei, „die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechterhalten“ zu können.

Dennoch meint Boehm wie schon vor ihm Philipp Sarasin mit seinem „1977“-Buch, dass die Gesellschaft ohne die Formulierung eines gemeinsamen Ziels in Kämpfen um Identitätsgruppierungen strandet, die eben keinen Anschluss mehr aneinander finden – und deren Stärken, weil sie Begriffe wie Biologie, Rasse oder Nation hinter sich ließen, immer nur scheinbare Stärken seien, weil man in der Hinterfragung einer allgemeinen Gesetzespolitik, vereinfacht gesagt, den Menschen über die Hintertüre entsorge.

Verständnis für das Allgemeine schwindet

Seit den 1970er Jahren, so zeigt ja auch der Historiker Sarasin, habe sich in den westlichen Demokratien die Identitätspolitik in und für einzelne Gruppen durchgesetzt. Die Aufwertung der einzelnen Gruppen sei aber nur um den Preis zu haben gewesen, dass die Vorstellung, „dass Menschen eine irgendwie feste, ‚einheitliche‘ Identität bewahren könnten“, so Sarasin, unter Druck gekommen sei. Wie sehr genau diese Bewegung etwa für die Generation Z auch zu einer Herausforderung geworden ist, beleuchtet diese Woche eine Serie in der Ö1-Reihe „Radiokolleg“ unter dem Titel „Follow Me“. Heute sei etwa die Positionierung zum eigenen Körper durch zahlreiche Einflüsse derart herausgefordert, dass man den eigenen Körper nicht mehr als „gegeben“ hinnehmen könne – so Statements am Montag zum Auftakt der Reihe.

Das Allgemeine zu denken, so Sarasin, sei für die Gegenwart in weite Ferne gerückt. Und der Algorithmus von Social-Media-Plattformen bestätige demgemäß das Verhalten einzelner oder bestimmter Gruppen, die ihre Gruppenidentität für das allgemein Verbindliche hielten.

Neue Studie: Klassische Mitte löst sich auf

Die jüngst vom Integral-Institut veröffentlichten Daten über die Sinus-Milieus Österreichs zeigen ein ähnliches Bild. In Österreich, so Integral in seiner jüngsten Aussendung, entstehe eine „neue Gegenüberstellung zwischen Zukunfts- und Vergangenheitsorientierung“, die nicht nur eine Frage des Alters sei, sondern tief die mittlere Mittelschicht erfasse.

Seit 2015 bestimme Österreichs Gesellschaft laut Integral weniger das Thema „Cocooning“, sondern immer stärker die gesellschaftliche Teilhabe, stark getrieben auch durch Themen wie Nachhaltigkeit und Klimawandel. Das habe Auswirkungen auf die bürgerliche Mitte, denn einerseits entstünden neue Milieus, während andere, so die Meinungsforscher, verschwänden.

Integral-Sinus-Milieu-Karte mit den unterschiedlichen Milieus Österreichs
Integral
Screenshot zur Sinus-Milieu-Studie: In diese Wertecluster zerfällt Österreich laut den Markt- und Meinungsforschern von Integral

„Die alte, staatstragende Mitte, deren zentrale Leitmotive ‚Stabilität‘ und ‚Normalität‘ waren, existiert in dieser Form nicht mehr. Abgelöst wird sie durch ein nostalgisch-bürgerliches Milieu, das die vermeintliche ‚Ordnung der Vergangenheit‘ wiederherstellen möchte und zum Sprachrohr des überforderten und unzufriedenen Teils unserer Gesellschaft wird“, so Martin Mayr von Integral. Es würde sich auch eine neue Reaktion auf Eliten bilden. Ein neues Milieu etwa setze sich „radikal“ für eine nachhaltige Zukunft ein. „Progressive Realisten“ nennt man in der Sinus-Milieu-Forschung diese Gruppe, die etwa sieben Prozent der Bevölkerung ausmache.

Buchcover Ullsteinverlag Boehm
Ullstein

Buchhinweise

  • Omri Boehm: Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität. Ullstein 2022.
  • Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Suhrkamp 2021.

„Es bildet sich Reaktanz gegen die Eliten heraus, und zahlreiche Fakten werden angezweifelt. Weiters ist ein neues Milieu entstanden, das sich radikal für die nachhaltige Zukunft Österreichs einsetzt“, beschreibt Martin Mayr, Mitglied der Geschäftsführung von INTEGRAL, den Umbruch in Österreichs Gesellschaft.

Sie sehen sich als Changemaker und als Treiber:innen einer alternativlosen globalen Transformation. Sie haben ein starkes Bedürfnis nach Mitsprache und Mitgestaltung bei Staat und Gesellschaft und eine hohe Bereitschaft, sich aktiv einzubringen, so Integral-Geschäftsführer Betram Barth. Diese Gruppe strebe nach konsequenter Nachhaltigkeit, ohne einer Verzichtslogik zu folgen.

Die „Nostalgisch-Bürgerlichen“ (laut Integral zwölf Prozent der Bevölkerung) wollten zurück in die vorgebliche sichere Ordnung, die sie durch einen stärkeren Nationalbezug, durch die Beschwörung von „Normalität“ und durch eine starke politische Führung erreichen wollen.

Offene Mitte in der Mitte

„Die neue Mitte der ‚Adaptiv-Pragmatischen‘ hat Sympathien für beide Orientierungen und steht im Moment eher ratlos dazwischen“, so die Experten von Integral. Diese „Adaptiv-Pragmatischen“ selbst hatte man aber vor gut sieben Jahren in der Milieu-Forschung als neue Gruppe aufgetan, die wohlstandsgewohnt, aber zugleich an Nutzwerten orientiert sei. Dieser Gruppe sei auch der große Rahmen globaler Informationen weniger wichtig, lautete damals ein Charakteristikum.

Wie viel Gemeinsames bildet die Gesellschaft?

1.000 Österreicherinnen und Österreicher im Alter von 16 bis 75 Jahren stehen im Zentrum der Integral-Befragungen. Werte, Lebensziele und Lifestyles stehen im Zentrum der Befragung und in der Schaffung des Modells unterschiedlicher Milieus. Nicht immer ist die Einteilung, die die Milieuforschung betreibt, ohne Kritik. Entscheidend ist, wie sehr die Milieus in der Lage sind, miteinander in Kontakt zu kommen. An sich will die Forschung ja nicht das Modell einer atomisierten Gesellschaft erheben, sondern stimmige Wertecluster bilden.

Einstellung der drei sozialen Milieus in Österreich zum politischen System
SORA
Das Vertrauen in das politische System Österreichs, laut SORA

Was die Integral-Forschung ähnlich wie der Demokratiemonitor von SORA sagt: Das Vertrauen in öffentliche Institutionen ist in bestimmten Gruppen so niedrig wie lange schon nicht. Andererseits könnten Institutionen wie ÖGB oder Caritas wiederum ihre Akzeptanz in der Gesellschaft halten. Aber, so warnt auch der Demokratiemonitor: Ein Drittel der Gesellschaft, nämlich das untere Drittel, könnte gerade den Institutionen des Landes dauerhaft verloren gehen.