Frau mit Kerze in Wohnung während einem Stromausfall nahe Kiew
AP/Emilio Morenatti
Kritische Infrastruktur

Ukraine rüstet sich für den Winter

Der Ukraine steht ein äußerst harter Winter bevor. Seit knapp einem Monat zerstört Russland mit gezielten Angriffen die kritische Infrastruktur des Landes, rund 40 Prozent des ukrainischen Energiesystems sind mittlerweile beschädigt. Für Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer bedeutet das erhebliche Einschränkungen bei der Versorgung mit Strom und Wasser, die Heizungen müssen vielerorts kalt bleiben.

Wegen der Schäden am Stromnetz und um großflächige Blackouts zu vermeiden, kappt der staatliche Energieversorger Ukrenerho immer wieder landesweit die Stromversorgung. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, besonders während der Spitzenzeiten morgens und abends Strom zu sparen. Waschmaschinen und Heizungen sollten möglichst nur nachts laufen, unnötige Lichtquellen abgeschaltet werden.

In dem seit mehr als acht Monaten andauernden russischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland ist die lebenswichtige Energieinfrastruktur ein Hauptziel der Attacken geworden. Die Ukraine wirft Russland „Energieterror“ vor mit dem Ziel, die Menschen in Dunkelheit, Kälte und Angst zu stürzen. Kreml-Chef Wladimir Putin wolle so Menschen in die EU treiben, um dort die Lage durch eine Vielzahl an Flüchtlingen zu destabilisieren, heißt es in Kiew.

Löscharbeiten an einem Kraftwerk in Kiew
Reuters/State Emergency Service of Ukraine
Löscharbeiten an einem von russischen Raketen getroffenen Kraftwerk in Kiew

Angriff auf infrastrukturelles „Nervensystem“

„Die seit dem 10. Oktober laufenden Angriffe der russischen Seite auf die kritische Infrastruktur der Ukraine haben immer schwerere Zerstörungen zur Folge. Im nun folgenden Winter kann das verheerende Auswirkungen auf die Ukraine haben. Deren Fähigkeit, den Abwehrkampf weiter fortführen zu können, ist gefährdet. Die in der Ukraine verbliebenen 35 Millionen Menschen stehen vor einem harten Winter mit ungewissem Ausgang“, sagte der Historiker und Bundesheeroffizier Markus Reisner.

Mitte Oktober erfolgte bei Kiew ein erster Angriff auf das „zentrale Nervensystem“, die 750-kV-Leitungen. Diese führen von den restlichen neun vorhandenen Reaktoren in den drei Kernkraftwerken weg und speisen über sieben zentrale Umspannwerke die 330-kV-Leitungen. „Die Zerstörung der Umspannwerke und der zentralen 750-kV-Leitung hätte verheerende Folgen. Ziel der Angriffe der Russen ist eindeutig die ukrainische Bevölkerung.“

Ukraine vor hartem Winter

Mehr als acht Monate dauert der Krieg in der Ukraine bereits, und abgesehen von Millionen Flüchtlingen im Ausland leben nach Schätzungen der UNO auch etwa sieben Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine selbst. Immer näher rückt nun der Winter; die kalte Jahreszeit sowie andauernde russische Angriffe auf die kritische Infrastruktur stellen das Land und Hilfsorganisationen vor neue Herausforderungen.

Kiew bereitet Heizstellen vor

Die Behörden in Kiew ziehen nach Angaben des Bürgermeisters Witali Klitschko wegen der russischen Angriffe verschiedene Szenarien zur Versorgung der Bevölkerung in Betracht. „Das Schlimmste wäre, wenn es überhaupt keinen Strom, kein Wasser und keine Fernwärme gäbe“, schrieb Klitschko auf dem Kurznachrichtendienst Telegram. „Für diesen Fall bereiten wir über 1.000 Heizstellen in unserer Stadt vor.“ Die Standorte werden mit Generatoren ausgestattet und verfügen über einen Vorrat an lebensnotwendigen Dingen wie Wasser.

Warteschlange vor einer manuellen öffentlichen Wasserpumpe in Kiew
AP/Sam Mednick
Die Wasser- und Stromversorgung in der ukrainischen Hauptstadt fällt immer wieder aus

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hofft auf Hilfe der EU. Bei der Wiederherstellung der Energieinfrastruktur sollte die EU-Kommission eine koordinierende Rolle spielen, regte Selenskyj an. „Ich bin sicher, dass wir alles wiederherstellen werden“, sagte Selenskyj. „Und in einer ruhigeren Zeit, wenn die Lage in unserem Energiesystem wieder stabil ist, werden wir wieder Strom nach Europa exportieren.“

Die Europäische Union hat der Ukraine bereits Unterstützung zugesagt. Nach Angaben von Energiekommissarin Kadri Simson liefert die EU zusammen mit dem Energiesektor finanzielle Mittel und Ausrüstung, um die ukrainische Infrastruktur zu reparieren. Im März wurde zudem das ukrainische Elektrizitätsnetz – ebenso wie das des benachbarten Moldawien – mit dem der EU verbunden. Dadurch können EU-Staaten der Ukraine kurzfristig Strom liefern.

Essenszubereitung für einen Kindergarten über offenem Feuer
Reuters/Valentyn Ogirenko
Die EU hat Mittel zur Reparatur der ukrainischen Infrastruktur zugesagt

Die aktuellen russischen Angriffe sind laut Kreml-Darstellung Vergeltungsschläge für den Anschlag auf die für Moskau wichtige Krim-Brücke Anfang Oktober und für andere Attacken auf Objekte kritischer russischer Infrastruktur, die Moskau Kiew vorwirft. Viele internationale Militärbeobachter gehen allerdings davon aus, dass die derzeitige heftige Angriffswelle Russlands gegen die Ukraine langfristiger geplant gewesen sein muss.

Militärexperten sehen Ukraine im Vorteil

In militärischer Hinsicht sehen Fachleute im Winter Probleme vorwiegend auf russischer Seite, die desolate Truppenmoral und Waffenmangel würde sich zusehends zeigen. „Auch ohne Einwirkung der Ukrainer wird der Winter eine große Herausforderung für die Russen“, sagte Niklas Masuhr, Forscher am angesehenen Center for Security Studies der Universität ETH in Zürich. „Für die Russen geht es noch darum, sich über den Winter einzugraben. Die Truppen sind in so schlechtem Zustand, dass nicht klar ist, ob sie das schaffen.“

Die Versorgung der Truppen an der Front werde im Winter schwerer, das drücke weiter auf die Moral unter den Soldaten, die schon am Boden liege. „Die russische Offensivfähigkeit in der Ukraine ist gebrochen, weitere Vorstöße sind eher unwahrscheinlich“, sagte er. „Russland hat auf Defensivmodus geschaltet.“ Gleichzeitig gebe es keine Anzeichen, dass die jüngste Kampagne mit Raketen- und Drohnenangriffen die Ukrainer eingeschüchtert habe oder ihnen der Schwung ausgehe.

Auch der Militärstratege Mick Ryan vom Zentrum für Strategie und internationale Studien sieht Vorteile aufseiten der Ukraine. Russland verfolge die Taktik, die Frontlinie über die Wintermonate hindurch irgendwie zu halten. Die Ukraine dagegen werde offensiver agieren, schrieb er in einem Gastbeitrag: „Sie werden den Schwung, den sie mit ihren Offensiven in Cherson und Charkiw erzeugt haben, weiter nutzen wollen und den Winter wahrscheinlich als Gelegenheit nutzen, um ihr Territorium weiter zurückzuerobern.“