Russische Soldaten
APA/AFP/Olga Maltseva
Abzug oder Falle

Rätseln über russische Strategie für Cherson

Die militärische Lage im Süden der Ukraine bleibt undurchsichtig: Zuletzt mehrten sich Spekulationen, Russland könnte die im Frühjahr eroberte Stadt Cherson angesichts der heranrückenden ukrainischen Truppen räumen. Von einem Rückzug auf das andere Ufer des Dnipro ist die Rede. Tatsächlich wurden einige Kontrollpunkte geräumt, gleichzeitig drängt Moskau darauf, Zivilisten aus dem Gebiet zu schaffen. Doch Militärexperten zweifeln daran, dass die russischen Truppen die strategisch und symbolisch wichtige Stadt kampflos aufgeben.

Wie weit und wie schnell die ukrainischen Truppen bereits vorgestoßen sind, ist schwer zu beurteilen. Die ukrainische Führung veröffentlicht schon seit Beginn des Vorstoßes keine Lageberichte, die meisten Informationen stammen von russischen Militärbloggern.

Laut übereinstimmenden Berichten eroberten ukrainische Truppen Orte am Westufer des Kachowkaer Stausees zurück und stoßen entlang des Ufers des Dnipro Richtung Südwesten vor. Gleichzeitig wird nördlich der Stadt Cherson gekämpft. Territoriale Gewinne halten sich dort aber in Grenzen. Zuletzt haben laut Experten die Witterungs- und matschigen Bodenbedingungen die Kampfhandlungen verlangsamt.

Umso überraschender hatten die prorussischen Besatzer schon am 19. Oktober verkündet, ihre Stadtverwaltung aus Cherson abzuziehen und Zivilistinnen und Zivilisten aus der Stadt zu bringen. Russland sprach von „Evakuierungen“, die Ukraine sieht diese als „massenhafte Zwangsumsiedlungen“.

Putin: Zivilisten müssen Cherson verlassen

Der russische Präsident Wladimir Putin ordnete am Freitag an, dass Zivilisten in der Region Cherson „in Sicherheit“ gebracht werden sollen. Alle, die in Cherson lebten, sollten aus dem gefährlichen Gebiet herausgebracht werden, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur RIA Putin. „Die Zivilbevölkerung sollte nicht leiden“, sagte der russische Präsident demnach. Was dahinter steckt, ist unklar.

Auch lösten die Behörden Verwirrung um eine „Sperrstunde“ aus. Denn gleichzeitig forderten sie die Menschen erneut mit Nachdruck zur Flucht auf. Die „Sperrstunde“ gelte rund um die Uhr für „Nazis und Helfer des Faschismus“, sagte der Vizechef der von Russland eingesetzten Besatzungsverwaltung, Kirill Stremoussow, am Freitag in einer Videobotschaft in seinem Telegram-Kanal.

Die russische Propaganda bezeichnet Ukrainerinnen und Ukrainer als „Nazis“, es würde sich demnach so darstellen, als hätten die russischen Besatzer nur die ukrainische Bevölkerung mit der „Sperrstunde“ belegt. Ob das so ist, blieb unklar. Zuvor hatte die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS über eine Videobotschaft von Stremoussow berichtet, wonach die „Sperrstunde“ für alle Bewohner gelte. Er löschte das Video dann aber offenbar wieder.

Verlassene Checkpoints

Schon seit einigen Tagen gehen Spekulationen um, die russischen Truppen könnten sich aus dem ganzen Territorium westlich bzw. nördlich des Flusses Dnipro zurückziehen. Tatsächlich hatte die Ukraine schon zuvor praktisch alle Verbindungen über den Dnipro zerstört – und den russischen Truppen nördlich des Flusses die Nachschubrouten praktisch genommen. In sozialen Netzwerken waren zuletzt auch Bilder von verlassenen Militärkontrollpunkten zu sehen. Auch die russischen Fahnen auf Verwaltungsgebäuden sollen verschwunden sein.

Spekulationen über Rückzug

In westlichen Sicherheitskreisen hatte es zuvor geheißen, Russland bereite den Rückzug seiner Truppen aus Cherson vor. Die Russen hätten wohl entschieden, dass „die Stadt den Kampf nicht wert“ sei, so ein hochrangiger Beamter einer westlichen Regierung am Donnerstag in einem Hintergrundgespräch vor Journalistinnen und Journalisten. Allerdings sei es immer möglich, dass sich die Militärführung kurzfristig umentscheide, auch wenn derzeit alles auf einen Rückzug hindeute, schränkte er ein.

Der von Russland eingesetzte stellvertretende Gouverneur der Region Cherson, Stremoussow, verkündete, er glaube, dass die russische Armee die Gebiete westlich des Dnipro räumen werde. Genau diese Aussagen machten Militärexperten wie auch die Regierung in Kiew stutzig: Sie warnen, dass es sich bei den angeblichen Rückzugsplänen um eine Falle handeln könnte.

Zweifel an kampfloser Aufgabe

Ein US-Experte für russisches Militär, Michael Kofman, schrieb auf Twitter, er bezweifele, dass Russland das Westufer des Flusses ohne größeren Druck aufgeben würde, aber er könne sich auch irren. Kofman, der bei einem Ukraine-Besuch auch in der Nähe der Cherson-Front war, meinte, die russischen Absichten seien unklar.

Zwar würden einige Gebiete geräumt, auf anderen Ebenen würden die Truppen aber auch verstärkt. An eine schnelle Einnahme von Cherson glaubt er nicht: Offenbar hoffe das ukrainische Militär, dass es noch heuer die Stadt zurückerobern kann.

Der US-Thinktank Institute for the Study of War schrieb in seinem täglichen Lagebericht am Donnerstag, dass die Lage unklar sei. Die russischen Truppen würden aber jedenfalls ihre Stellungen nordwestlich von Cherson noch verstärken. Auch Eliteeinheiten würden dort eingesetzt, was alles gegen einen Rückzug spreche.

Die „Washington Post“ schreibt, das Gebiet sei für Moskau strategisch und politisch zu wichtig, um es aufzugeben. Schließlich habe der Oblast Cherson den einzigen Landzugang zur Krim. Vor allem aber sichere ein Kanal von Dnipro aus die Wasserversorgung der Halbinsel. Selbst wenn man das Westufer aufgebe, müsse man einen weiteren Vormarsch der Ukraine befürchten.

Dnipro als natürliche Barriere

Mittlerweile kursieren auch weitere Szenarios. Russland könne einen Abzug vortäuschen, tatsächlich aber Truppen in der Stadt Cherson belassen und damit dem ukrainischen Militär eine Falle stellen. Andere Beobachter sehen durchaus die Möglichkeit, dass sich Russland zurückzieht – und dann hätte man mit dem Dnipro eine natürliche Barriere zu den ukrainischen Truppen.

Zu dieser Theorie passt, dass Russland die Befestigungsanlagen östlich des Flusses laut Militärbloggern erheblich verstärkt habe. Und dass Zivilisten auch auf dieser Seite des Flusses umgesiedelt wurden, könnte als Grund haben, dass die russischen Truppen für den Winter feste Unterkünfte brauchen.

Spekulationen über Dammsprengung

Schon seit Längerem wirft die Ukraine den Russen vor, den Staudamm des Wasserkraftwerks Kachowka vermint zu haben, um mit einer Flutwelle eine ukrainische Gegenoffensive in Cherson zu stoppen. Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte im Oktober vor einer „Katastrophe großen Ausmaßes“. Im Falle eines Dammbruchs seien Hunderttausende Menschen am Fluss Dnipro in Gefahr. Russland dementierte umgehend.

Tatsächlich würde sich Russland mit einer solchen Aktion ins eigene Fleisch schneiden: Denn überflutet würden eher russisch besetzte Gebiete südlich des Flusses – und nicht die etwas höher gelegene Stadt Cherson, wie Selenskyj fälschlicherweise behauptete. Kyrylo Budanow, der Chef des Militärgeheimdienstes, stellte das einige Tage später klar und verwies auch darauf, dass der für die Krim lebenswichtige Kanal mit der Dammsprengung verloren gehen würde.