Eine Ambulanz biegt in die Rue de la Chapelle in Brüssel, ein Fahrstreifen ist durch Blumenkästen und bunte Absperrungen blockiert
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Autofreie Straßen

Brüssler Pläne reißen tiefe Gräben auf

Demolierte Verkehrsschilder, abgebaute Poller: In Brüssel protestieren momentan Anrainerinnen und Anrainer lautstark gegen die dauerhafte Verkehrsberuhigung ihrer Stadt. Während die „Stauhauptstadt“ Europas damit verhältnismäßig spät dem Vorbild anderer Städte folgt, geht die Debatte weit über die Verkehrssituation hinaus – und lenkt so den Blick auch auf andere Probleme in Brüssel.

Paris, Barcelona, Wien: In zahlreichen europäischen Großstädten wird dem Fahrrad sowie Fußgängerinnen und Fußgängern zunehmend mehr Platz gewidmet, und die Vorherrschaft des Autos – zumindest ein bisschen – herausgefordert. Neben Bestrebungen für das Klima wird oft auch mit mehr Lebensqualität argumentiert. Auch Brüssel will diesen Weg nun gehen, bis zum Jahr 2030 will man mit der „Good Move“-Initiative den Verkehr in der Stadt komplett umkrempeln.

Wer nicht zum ersten Mal in der EU-Hauptstadt ankommt, bemerkt bei einem Spaziergang durch Brüssel bereits einige Änderungen. Seit letztem Jahr herrscht nun im Großteil der Stadt Tempo 30, auch neue Radwege zieren das Stadtbild. So etwa auf der Rue de la Loi, jene Straße, die den Sitz des belgischen Premiers mit den Gebäuden der EU verbindet.

Rue de la Chapelle in Brüssel, ein Skatepark ersetzt einen Fahrstreifen
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Mit der „Good Move“-Kampagne will Brüssel den Autoverkehr in der Stadt einbremsen

Doch das Auto ist immer noch allgegenwärtig: Egal ob in der Früh oder am Abend – auf praktisch allen Hauptverkehrsadern der Stadt steht der Autoverkehr regelmäßig still. Und auch in den Grätzeln ist die Lage alles andere als ruhig, ein Umstand, den „Good Move“ seit August angehen will, dadurch aber ordentlich ins Stocken kommt.

Proteste und Rückzieher

Denn in den betroffenen Gegenden ist der Widerstand mitunter lautstark, etwa in Cureghem, gleich hinter dem als eher unsicher geltenden Südbahnhof. Als dort im August Betonblöcke aufgestellt wurden, um den Autoverkehr zu bremsen, gingen wütende Anrainerinnen und Anrainer auf die Straße: Verkehrsschilder wurden übermalt, die Betonblöcke über Nacht verschoben. Kurz darauf verkündete der Bürgermeister der zuständigen Brüssler Gemeinde Anderlecht, dass die Änderungen zurückgenommen werden.

Auch in Schaerbeek im Norden der Stadt, medial zuletzt vor allem durch den tödlichen Messerangriff auf einen Polizisten in Erscheinung getreten, spielten sich vor wenigen Wochen ähnliche Szenen ab. Verständnis für die Änderungen gibt es unter den Protestierenden nicht: „Wir sind in unserer eigenen Nachbarschaft eingesperrt. Wir müssen große Umwege fahren, um zu unserem Geschäft zu gelangen“, zitierte die Nachrichtenseite Bruzz einen Geschäftsinhaber.

Initiative wackelt

Zwar hieß es, man wolle an den Plänen in Schaerbeek festhalten, doch die gesamte „Good Move“-Initiative droht nun zu wackeln. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Rudi Vervoort hielt in einem Interview eine „Pause“ für vorstellbar. „Wo es zu Spannungen kommt, ist es besser, nicht zu hartnäckig zu sein“, so Vervoort gegenüber der Zeitung „Le Soir“.

Ein Bus fährt durch die verkehrsberuhigte Rue du Gentilhomme in Brüssel
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Straßen sind oft nur noch für Fahrräder und den öffentlichen Verkehr befahrbar

Die Brüssler Verkehrsministerin Elke Van den Brandt von den Grünen will aber an den Plänen nichts ändern: „Die Durchführung des Mobilitätsplans ‚Good Move‘ wird wie geplant weitergeführt“, heißt es gegenüber ORF.at. Zwar sei die Aktion durch die Proteste in Cureghem und Schaerbeek ins Stocken geraten, doch die „Behörden arbeiten mit Menschen aus den Nachbarschaften“ zusammen, um im Frühling „adaptierte Pläne“ umzusetzen. Man würde schon jetzt „positive Resultate“ sehen. Als Nächstes werde man Maßnahmen im Stadtteil Ixelles setzen – eine Gegend, die nicht zuletzt beliebte Wohnadresse vieler Menschen aus der EU-„Bubble“ ist.

Auch soziale Unterschiede spielen Rolle

Dort ist wahrscheinlich mit weniger Widerstand zu rechnen – denn, geht es nach einigen Beobachtern, zeige „Good Move“ in Wirklichkeit einige andere Probleme der belgischen Hauptstadt auf. Gegenüber „Politico“ sagte Van den Brandt selbst, dass Gegenden, in denen es Proteste gibt, auch mit allgemeineren Themen wie Sicherheit, Wohnen und Beschäftigung haderten. In Vierteln, in denen viele „Expats“ lebten, sei der Bildungsstandard höher – ihnen würde es leichter fallen, sich umfassend zu informieren und auch an Veranstaltungen wie Infoabenden teilzunehmen, so die Ministerin.

In Medien wird von einem Kampf gegen die Pläne der „Bobo-Grünen“ gesprochen, wie etwa die Zeitung „De Morgen“ titelt. Die Zeitung „Knack“ schreibt in einem Kommentar, dass die Debatte über einen Verkehrsplan „zu einer Debatte über kulturelle Identität und soziale Stellung“ wurde. Das Fahrrad als fortschrittliches Symbol der Bessergestellten gegen das Auto als hart erkämpftes Statussymbol der Benachteiligten – und die Grünen, egal ob französischsprachig oder flämisch, in der Zwickmühle. Denn während man sonst bei Brüsslerinnen und Brüsslern der ersten und zweiten Generation punkten konnte, stößt man bei der Verkehrsdebatte offenbar auf wenig Gegenliebe.

Die grüne Brüssler Ministerin sieht aber keine Spaltung: „Einige haben in ihren Analysen der Proteste auf eine Kluft hingewiesen, aber wir haben keine Anhaltspunkte dafür“, so Van den Brandt. Und sie fordert alle Bürgerinnen und Bürger auf, sich an der immer noch laufenden Debatte zu beteiligen: „Egal, ob Sie seit 30 Jahren oder erst seit 30 Tagen in Brüssel leben, jeder ist hier willkommen, und jeder hat das Recht, seine Bemerkungen, sein Feedback, seine Fragen zu äußern. Gemeinsam sind wir Brüssel, und gemeinsam werden wir eine bessere Stadt für alle schaffen.“

Ministerin versteht Kritik

Freilich gibt es auch in den Grätzeln, in denen protestiert wird, zahlreiche Befürworterinnen und Befürworter der Verkehrsberuhigung: Eine Unterschriftenaktion für die Maßnahmen erreichte binnen kürzester Zeit einige tausend Unterschriften. Und während bei einigen der Ärger über die neuen Regeln überwiegt, freuen sich andere über weniger Verkehr und fahrradfreundliche Straßen – auch die Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr ist Thema.

Grüne Bodenmarkierungen und Poller zur Verkehrsberuhigung auf der Rue Royale in Brüssel
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Poller und ähnliche Maßnahmen sorgten für eine aufgeheizte Stimmung in der Stadt

Gegenüber ORF.at zeigt Verkehrsministerin Van den Brandt Verständnis für die Kritik, nicht aber die Ausschreitungen: „Good Move“ sei ein „ehrgeiziger Plan, und es ist logisch, dass diese Art von Veränderung einen großen Einfluss auf die Menschen hat. Wir greifen in die persönlichen Gewohnheiten der Menschen ein, und es bleibt eine Herausforderung zu erklären, warum und zu welchem Zweck.“ Man begrüße Kritik, „verurteilen aber jede Form von Gewalt und Einschüchterung“, so Van den Brandt.

Längst wird die Situation aber von allen Seiten politisch ausgeschlachtet: Vor allem der flämische rechte Vlaams Belang nützte die Aktion und die Proteste dagegen, um gegen die Regierung Stimmung zu machen. Kritik kam auch von der flämischen konservativen Partei N-VA. Die französischsprachige liberale Partei MR will unterdessen mit mindestens 50 Prozent der betroffenen Anrainerinnen und Anrainer reden.

Brüssel auf Spuren Gents

Längerfristig könnte sich Brüssel wie andere Städte in der näheren Umgebung entwickeln – neben dem nur eine Stunde mit dem Zug entfernten Paris liegt ein weiteres Beispiel direkt vor der eigenen Stadtgrenze. Auch in Gent wurde erst vor wenigen Jahren gegen einen neuen Verkehrsplan protestiert. Während die Geschäftsleute tatsächlich zuerst die Auswirkungen zu spüren bekamen, hat sich die Lage mittlerweile eingependelt – und sich das Stadtbild verändert.

„Alle sind für Sicherheit im Verkehr“, sagte Mobilitätsexperte Dirk Lauwers von der Universität Gent gegenüber der Brussels Times. „Bei der Einführung von Maßnahmen sind die Menschen oft negativ eingestellt. Aber Menschen, die kritisch sind, werden mit der Zeit immer positiver, weil sie am Ende auch die Vorteile sehen“, so der Experte.

Van den Brandt verweist unterdessen auf bereits beobachtbare Entwicklungen in Brüssel: „Die Zahl der Radfahrer in der Stadt hat sich in drei Jahren fast verdreifacht, und die Zahl der Unfälle und Verkehrstoten ist deutlich zurückgegangen.“ Damit werden wohl die kommenden Wochen und Monate darüber entscheiden, in welche Richtung sich Brüssel weiterentwickelt – das wird vor allem davon abhängen, ob sich Politik und Anrainerinnen und Anrainer über die Zukunft ihrer Stadt einig werden.