Zerstörtes Haus von innen
Reuters
Cherson

Russland ordnet Abzug von Truppen an

Der Kreml erleidet im Angriffskrieg gegen die Ukraine einen weiteren schweren Rückschlag: Nach heftigen Kämpfen kann Russland den nordwestlichen Teil des annektierten Gebiets Cherson nicht länger halten. Damit verliert Russland auch die Kontrolle über die gleichnamige Gebietshauptstadt Cherson.

Russische Truppen ziehen sich nun vom rechten Ufer des Flusses Dnipro zurück, wie der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte. Die Anordnung wurde im russischen Staatsfernsehen gezeigt. „Das Leben und die Gesundheit der Soldaten der Russischen Föderation waren immer eine Priorität“, sagte Schoigu zur Begründung. Der neue Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, berichtete von zuletzt heftigem Beschuss der Ukrainer auf die Stadt Cherson und umliegende Ortschaften.

Russland hatte das Gebiet Cherson in den ersten Kriegswochen weitgehend besetzt und im September – ebenso wie die Regionen Saporischschja, Luhansk und Donezk – völkerrechtswidrig annektiert. Ungeachtet dessen kündigte die Ukraine immer wieder an, Stadt und Gebiet Cherson auch mit Hilfe westlicher Waffen befreien zu wollen. Die Region ist von strategisch großer Bedeutung, weil sie an die 2014 von Moskau annektierte ukrainische Halbinsel Krim grenzt.

Wehrschütz (ORF) über den Rückzug aus Cherson

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz berichtet aus Kiew, warum die Russen die Hafenstadt Cherson wieder aufgeben und was dieser Rückzug für das ukrainische Militär bedeutet.

Skepsis in Kiew

Die ukrainische Seite reagierte verhalten auf die Ankündigung des Rückzugs. Es sei zu früh, um von einem Abzug zu sprechen, sagte Präsidentenberater Mychailo Podoljak der Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch. Es verblieben einige russische Truppen in der Stadt, zudem würden zusätzliche Kräfte in die Region beordert. Die Ankündigungen aus Moskau und die Handlungen an Ort und Stelle seien mitunter höchst unterschiedlich. Solange nicht die ukrainische Flagge über Cherson wehe, könne von einem russischen Rückzug nicht gesprochen werden. Die ukrainischen Streitkräfte hielten sich an die Vorgabe, sich auf Aufklärung, Risikoabwägung und effektive Gegenangriffe zu konzentrieren.

115.000 Menschen verließen angeblich Region

In den vergangenen Wochen gab es andauernd heftige Kämpfe in der Region. Mehrfach berichteten die Ukrainer von großen Zerstörungen und hohen Verlusten auf russischer Seite. Unabhängig konnte das oft zwar nicht überprüft werden. Zuletzt rechneten aber auch russische Militärblogger mit einem baldigen Rückzug der eigenen Truppen aus der Stadt Cherson. Auch Kommandeur Surowikin kündigte bereits im Oktober „schwierige Entscheidungen“ in Cherson an, was von Beobachtern als Indiz für einen geplanten Abzug gedeutet wurde.

Zudem brachten die russischen Besatzer eigenen Angaben zufolge viele Zivilisten aus der Stadt Cherson weg. Die Ukraine sprach stets von einer Verschleppung der Menschen. Am Mittwoch nannte Surowikin die Zahl von rund 115.000 Menschen, die die Region bereits verlassen hätten.

Vertreter der prorussischen Behörden tot

Ebenfalls am Mittwoch war zuvor der stellvertretende Chef der besetzten Region ums Leben gekommen, nach offiziellen Angaben bei einem Verkehrsunfall. Das Auto von Kirill Stremussow sei in einen Unfall geraten, hieß es vom von Moskau ernannten amtierenden Gouverneur Wladimir Saldo. Stremussow habe „ohne Waffe“ gearbeitet, sondern vielmehr „mit seinen Worten und seiner Ausdrucksstärke“, erklärte Saldo. Er bezeichnete Stremussow als einen der „klügsten“ Menschen, die er je gekannt habe.

Seit der Eroberung von Cherson war Stremussow einer der eifrigsten Vertreter der Besatzungsmacht gewesen. Er meldete sich oft in kremlfreundlichen Medien zu Wort und galt als Unterstützer der russischen Militäroffensive in der Ukraine.

Kiew weist neues Gesprächsangebot zurück

Die ukrainische Führung hat unterdessen ein Gesprächsangebot Moskaus am Mittwoch als „neue Nebelkerze“ zurückgewiesen. „Russische Beamte beginnen, Gesprächsangebote immer dann zu unterbreiten, wenn die russischen Truppen Niederlagen auf dem Schlachtfeld erleiden“, schrieb Außenamtssprecher Oleh Nikolenko auf Facebook. Mit dem neuen Dialogangebot spiele Russland lediglich auf Zeit, um seine Truppen neu zu sortieren und zu verstärken und dann „neue Wellen der Aggression“ einzuleiten.

In Moskau hatte Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa am Nachmittag die Bereitschaft Russlands zu Gesprächen „auf Grundlage der aktuellen Realitäten“ angeboten. Damit war der aktuelle Stand an den Fronten gemeint. „Wir sind weiterhin zu Gesprächen bereit, wir haben sie nie verweigert“, sagte sie. Kiew hat bereits mehrere Verhandlungsangebote aus Moskau abgelehnt, fordert als Vorleistung den kompletten Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine, auch von der Halbinsel Krim.