Stadtansicht von Cherson
APA/AFP/Andrey Borodulin
Cherson

Russischer Rückzug ruft Skepsis hervor

Die Ukraine reagiert mit Misstrauen auf die russische Ankündigung eines Truppenrückzugs aus der südukrainischen Stadt Cherson. „Der Feind macht uns keine Geschenke, macht keine ‚Gesten des guten Willens‘“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Sein politischer Berater Mychailo Podoljak warnte gar, Russland wolle Cherson in eine „Stadt des Todes“ verwandeln. Auch die NATO und London zeigten sich skeptisch.

Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte den Rückzug aus der strategisch wichtigen Stadt Cherson und Teilen der gleichnamigen Region am Mittwoch angeordnet. Die russischen Truppen sollten sich demnach ans südöstliche Ufer des Flusses Dnipro zurückziehen. Am Donnerstag erklärte die russische Armee, die Truppenbewegung habe begonnen. „Einheiten der russischen Truppen manövrieren sich zu den Positionen am linken Ufer des Flusses Dnipro, in Übereinstimmung mit dem genehmigten Plan“, erklärte das Verteidigungsministerium.

Selenskyj sagte Mittwochabend in seiner täglichen Videobotschaft, die ukrainische Armee würde „sehr vorsichtig, ohne Emotionen, ohne unnötiges Risiko“ vorgehen. Er bekräftigte das Ziel der Ukraine, „unser gesamtes Land zu befreien und die Verluste so niedrig wie möglich zu halten“. Jeder Gebietsgewinn der Ukraine koste die Leben „unserer Helden“.

„Wir vertrauen dem Feind nicht“

Der ukrainische Abgeordnete und Unterhändler David Arachamia bestätigte, Kiew werde sich nicht in Sicherheit wiegen lassen. „Wir vertrauen dem Feind nicht und werden unseren Plänen zur Befreiung der Gebiete entsprechend handeln“, erklärte er. Früher oder später würden die Russen die besetzten Gebiete verlassen, „oder sie werden vernichtet“.

Ukrainische Soldaten auf einem Panzer nahe Cherson
Reuters
Ukrainische Soldaten auf einem Panzer nahe Cherson

Noch eindrücklicher fiel die Reaktion Podoljaks aus: Er beschuldigte Russland, Gegenden zu verminen und zu planen, Cherson von der anderen Seite des Dnipro zu beschießen. „RF (Russland, Anm.) will Cherson in eine ‚Stadt des Todes‘ verwandeln. Das russische Militär vermint alles, was es kann: Wohnungen, Abwasserkanäle. Die Artillerie am linken Ufer plant, die Stadt in Ruinen zu verwandeln“, schrieb Podoljak auf Twitter. „So sieht (die, Anm.) ‚russische Welt‘ aus: kam, raubte, feierte, tötete ‚Zeugen‘, hinterließ Ruinen und ging.“

Neben dem Fernsehzentrum seien unter anderem Fernheizungsanlagen und Funkmasten gesprengt worden, berichtete auch die „Ukrajinska Prawda“ am Donnerstag. Zudem sei in der Stadt der Strom komplett ausgefallen, ebenso das Internet. Die ukrainische Staatsagentur Unian veröffentlichte eine Reportage mit Fotos aus Dörfern an der Randzone des Cherson-Gebiets, die von nachrückenden ukrainischen Truppen befreit worden waren. „Zerstörte Häuser, Minen und Müll“ seien überall zu sehen.

NATO: Russland schwer unter Druck

Auch der britische Geheimdienst erklärte, dass die russischen Truppen Brücken zerstört und mutmaßlich auch Minen gelegt hätten, um die Rückeroberung von Cherson für die Ukraine zu erschweren. Es sei zu erwarten, dass sich der angekündigte Rückzug über mehrere Tage hinziehen und von Artilleriefeuer zum Schutz der abziehenden Einheiten begleitet werde, hieß es am Donnerstag im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums auf Twitter. Insbesondere bei der Überquerung des Dnipro seien die russischen Einheiten angesichts begrenzter Möglichkeiten verletzlich.

ORF-Analyse des Abzugs aus Cherson

Die ZIB-Korrespondenten Paul Krisai und Christian Wehrschütz sprechen unter anderem über die Ankündigung Russlands, seine Truppen aus der ukrainischen Stadt Cherson abzuziehen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich ebenfalls zurückhaltend. „Wir müssen jetzt sehen, wie sich die Lage vor Ort in den nächsten Tagen entwickelt“, sagte der Norweger. Klar sei aber, dass Russland schwer unter Druck stehe. „Wenn sie Cherson verlassen, wäre das ein weiterer großer Erfolg für die Ukraine.“

Auch der Sicherheitsberater der US-Regierung, Jake Sullivan, nannte den russischen Abzug aus der südukrainischen Stadt Cherson einen „wichtigen Meilenstein“ für die Ukrainer. Man müsse nun aber schauen, wie sich die Lage dort tatsächlich entwickle. „Das ist natürlich nicht das Ende des Krieges, denn Russland hält weiterhin Teile des ukrainischen Territoriums besetzt“, sagte er und kündigte außerdem neue Militärhilfe für die Ukraine an. Dabei solle die ukrainische Armee vor allem Unterstützung im Bereich Luftverteidigung erhalten.

Mangott: Scheinabzug Russlands möglich

Der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott sieht noch eine kleine Restwahrscheinlichkeit, dass es sich beim Abzug der russischen Truppen aus Cherson um einen Scheinabzug handelt, wie er am Donnerstagabend in der ZIB2 sagte. Militärisch mache der Abzug der Russen durchaus Sinn, könne aber bis zu zwei Wochen dauern, so Mangott. Moskau wolle den Begriff Rückzug vermeiden, in Wahrheit handle es sich aber um die dritte große Niederlage der russischen Armee im Ukraine-Krieg.

Das Ostufer des Flusses Dnipro sei weitaus besser zu verteidigen und werde wohl für lange Zeit die Front darstellen, so der Politologe. Denn wenn es den russischen Truppen nicht gelinge, diese neue Front zu halten, drohe die Gefahr, dass die Landverbindung zur Krim unterbrochen und der Nord-Krim-Kanal wieder blockiert werde.

An baldige Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien glaubt Mangott nicht. „Es ist nicht die Zeit für Verhandlungen“, sagte er, denn beide Seiten wollten zunächst Erfolge am Schlachtfeld erzielen. Daher seien auch diesbezügliche Gespräche beim kommenden G-20-Gipfel in Bali nicht zu erwarten, so Mangott.

Politikwissenschaftler zum Abzug aus Cherson

Politikwissenschaftler Gerhard Mangott spricht unter anderem über den Abzug der russischen Truppen aus Cherson in der Ukraine und über den Zustand der russischen Truppen.

Kadyrow: Truppenabzug richtige Entscheidung

Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, hält den russischen Truppenabzug aus Cherson und dem gesamten rechten Dnipro-Ufer für eine richtige Entscheidung.

Der neue Kommandant der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, habe damit tausende Soldaten aus der faktischen Umzingelung gerettet, schrieb Kadyrow am Donnerstag in seinem Telegram-Kanal. Surowikin habe eine „schwere, aber richtige Entscheidung zwischen sinnlosen Opfern für lautstarke Erklärungen und der Rettung unbezahlbarer Soldatenleben“ getroffen.

Strategisch wichtiger Standpunkt

Cherson ist eine von vier Regionen in der Ukraine, die mittlerweile von der Regierung in Moskau annektiert und zum russischen Staatsgebiet erklärt wurde. Die Region ist für Russland auch deshalb wichtig, weil es an die ukrainische Halbinsel Krim grenzt, die die Regierung in Moskau bereits 2014 völkerrechtswidrig annektiert hat. Sollten sich die russischen Streitkräfte komplett aus dem Gebiet zurückziehen müssen, wäre eine direkte Verbindung von der Krim zum ukrainischen Festland gekappt, was Folgen für die russischen Nachschubwege hätte. Zudem würden die ukrainischen Stellungen wieder sehr viel näher an die Krim rücken, die seit Beginn des Krieges bereits mehrfach Ziel von Angriffen war. Schließlich gilt Cherson als strategisch wichtig für die russische Strategie, die gesamte Schwarzmeer-Küste der Ukraine zu besetzen.

Ukraine: Russischer Abzug aus Cherson

Die russische Militärführung will ihre Truppen aus der ukrainischen Stadt Cherson abziehen. Für die Ukraine ist das ein wichtiger symbolischer Sieg , dennoch will man Moskau aber nicht trauen, denn die Frage nach der Strategie bleibt weiter offen.

Ukraine rückt vor

Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region Cherson sind ukrainische Soldaten am Donnerstag nach eigener Darstellung bereits in den ersten Vorort der südukrainischen Stadt eingerückt. Wie der ukrainische Gouverneur des Gebietes Mykolajiw, Witalij Kim, berichtete, sei der Ort Tschornobajiwka bereits unter ukrainischer Kontrolle. Nähere Angaben wollte er nicht machen. „Wir schweigen weiterhin, denn all das ist Sache des Militärs.“ Der Generalstab der Ukraine teilte unterdessen mit, die russischen Militärs zögen nur langsam ab, um ihre Verteidigungslinien am linken Ufer des Dnipro zu verstärken.

„Die Zahl der ukrainischen Flaggen, die im Rahmen der laufenden Verteidigungsoperation an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren, umfasst bereits Dutzende“, sagte der ukrainische Präsident Selenskyj am Donnerstagabend in seiner täglichen Videobotschaft.

Selenskyj: Minenräumung grundlegende Aufgabe

Gleichzeitig warnte er vor den Gefahren in den nunmehr von den Besatzern aufgegebenen Gebieten. „Die erste und grundlegende Aufgabe ist die Minenräumung“, sagte Selenskyj. Die Besatzer ließen Tausende Blindgänger und Munition zurück. „Ich habe oft Schätzungen gehört, dass die Räumung der Ukraine von russischen Minen Jahrzehnte dauern wird.“ Nach seinen Erkenntnissen seien noch rund 170.000 Quadratkilometer des Landes minenverseucht.

Selenskyj wies darauf hin, dass die aktuellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte „durch Monate brutalen Kampfes“ erreicht worden seien. „Es ist nicht der Feind, der geht – es sind die Ukrainer, die die Besatzer verjagen“, sagte Selenskyj. „Und wir müssen den ganzen Weg gehen – auf dem Schlachtfeld und in der Diplomatie –, damit überall in unserem Land, entlang unserer gesamten international anerkannten Grenze, unsere Flaggen – ukrainische Flaggen – zu sehen sind. Und keine feindlichen Trikoloren mehr.“