russisches Fahrzeug
IMAGO/TASS/Sergei Bobylev
Cherson

Russische Armee meldet kompletten Abzug

Die russische Armee hat Freitagfrüh nach eigenen Angaben ihren Rückzug aus dem Norden der ukrainischen Region Cherson abgeschlossen. Um 5.00 Uhr (4.00 Uhr MEZ) sei „der Transfer russischer Soldaten ans linke Ufer des Flusses Dnipro beendet“ gewesen, teilte das russische Verteidigungsministerium in einer online veröffentlichten Erklärung mit. Zugleich sei mit der strategisch wichtigen Antoniwka-Brücke die einzige nahe gelegene Straßenverbindung zur Stadt eingestürzt.

Das meldete der ukrainische öffentlich-rechtliche Rundfunk Suspilne unter Berufung auf Angaben von Anrainern. Die nächste Flussquerung für Fahrzeuge sei mehr als 70 Kilometer von der Regionalhauptstadt entfernt, hieß es. Der Sender veröffentlichte ein Foto, auf dem zu sehen ist, dass ein ganzer Abschnitt der Brücke fehlt.

Wenig später meldete Russland, dass nun alle Truppen ans östliche Flussufer des Dnipro verlegt worden seien. Nach Darstellung aus Moskau seien alle Einheiten samt Technik und Ausstattung ohne Verluste auf die linke Uferseite des Dnipro gebracht worden. „Kein einziger Teil militärischer Ausrüstung und Waffen“ sei auf der anderen Flussseite zurückgelassen worden, hieß es in der Erklärung.

Gehisste Flaggen und Hupkonzerte

Im Zentrum der Stadt – darunter auch auf dem Gebäude der örtlichen Gebietsverwaltung – wurden bereits ukrainische Flaggen gehisst, wie Bilder in sozialen Netzwerken zeigen. Auch seien Hupkonzerte zu vernehmen gewesen. Örtlichen Berichten zufolge rückten die ukrainischen Einheiten auch bereits in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Kachowka-Staudamms ein.

Ukrainische Soldaten wurden von den Menschen enthusiastisch mit Umarmungen und Beifall begrüßt. Die ukrainische Regionalverwaltung warnte die Bevölkerung jedoch eindringlich davor, ihre Häuser zu verlassen, bevor ukrainische Truppen die Stadt vollständig eingenommen haben und die Suche nach möglicherweise zurückgelassenen russischen Truppen abgeschlossen sei.

Ukraine: Dutzende Ortschaften befreit

Unterdessen rücken die ukrainischen Truppen laut eigenen Angaben in das jetzt laut russischen Angaben verlassene Gebiet vor. In dem Gebiet um Cherson seien bereits 41 Ortschaften befreit, teilte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstagabend mit. Die Zahl der ukrainischen Flaggen, die im Rahmen der Verteidigungsoperation „an ihren rechtmäßigen Platz“ zurückkehrten, gehe in die Dutzende.

Beim Rückzug auf das andere Flussufer seien viele russische Soldaten ertrunken, behauptete die Regionalverwaltung von Cherson. Das russische Verteidigungsministerium meldete am Freitag wiederum, mehr als 20 ukrainische Soldaten seien beim Versuch, den russischen Truppen nachzustellen, durch Minenfelder getötet worden, wie die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti berichtete. Diese Meldungen können derzeit nicht unabhängig überprüft werden.

Moskau: Russischer Cherson-Abzug abgeschlossen

Mehr als 40 Städte und Dörfer im Süden des Landes seien befreit worden, meldet Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die russischen Truppen ziehen sich aber offenbar nur langsam zurück und versuchen dabei, ihre Verteidigungslinie am Ufer des Dnipro zu stärken.

Kreml: Gebiet Cherson bleibt Teil Russlands

Unterdessen sieht Moskau das ukrainische Gebiet Cherson auch nach dem Abzug seiner Truppen weiter als russisches Staatsgebiet an. Das Gebiet bleibe Teil der Russischen Föderation, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. „Dieser Status ist per Gesetz bestimmt und gefestigt. Hier gibt es keine Änderungen und kann es keine geben“, sagte Peskow.

Die Frage, ob die Niederlage in Cherson nicht für Präsident Wladimir Putin erniedrigend sei, verneinte Peskow. Putin hatte Ende September vier ukrainische Gebiete, darunter Cherson, bei einer Zeremonie im Kreml vollmundig zu einem Teil Russlands erklärt. Peskow machte deutlich, dass der Kreml auch die Feier auf dem Roten Platz zur Einverleibung der Regionen nicht bereue. Die Weltgemeinschaft sieht in den Annexionen einen Völkerrechtsbruch.

Stadtansicht von Cherson
APA/AFP/Andrey Borodulin
Blick auf Cherson, entlang der Stadt fließt der Dnipro – das Bild stammt von 20. Mai

Verwüstungen und Minen

Bei ihrem Abzug aus Cherson haben russische Truppen nach Medienberichten die Stadt verwüstet. Neben dem TV-Zentrum seien unter anderem Fernheizungsanlagen und Funkmasten gesprengt worden, berichtete die „Ukrajinska Prawda“ am Donnerstag. Zudem sei in der Stadt der Strom komplett ausgefallen, ebenso das Internet. Bereits in den vergangenen Tagen waren mehrere Brücken über den Dnipro gesprengt worden.

Präsident Selenskyj warnte vor Gefahren in den von den Besatzern aufgegebenen Gebieten. „Die erste und grundlegende Aufgabe ist die Minenräumung“, sagte er. Die Besatzer ließen Tausende Blindgänger und Munition zurück. „Ich habe oft Schätzungen gehört, dass die Räumung der Ukraine von russischen Minen Jahrzehnte dauern wird.“ Noch rund 170.000 Quadratkilometer des Landes seien minenverseucht.

Selenskyj: „Monate brutalen Kampfes“

Selenskyj wies darauf hin, dass die aktuellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte „durch Monate brutalen Kampfes“ erreicht worden seien. „Es ist nicht der Feind, der geht – es sind die Ukrainer, die die Besatzer verjagen“, sagte Selenskyj. „Und wir müssen den ganzen Weg gehen – auf dem Schlachtfeld und in der Diplomatie –, damit überall in unserem Land, entlang unserer gesamten international anerkannten Grenze unsere Flaggen – ukrainische Flaggen – zu sehen sind. Und keine feindlichen Trikoloren mehr.“

Tote bei russischem Angriff auf Wohnhaus in Mykolajiw

Unterdessen wurden bei einem russischen Angriff auf ein Wohnhaus in der südukrainischen Stadt Mykolajiw in der Nacht auf Freitag ukrainischen Angaben zufolge mindestens sieben Menschen getötet und weitere drei verletzt.

Wohnhaus in Mykolajiw von Rakete getroffen

Bei einem neuen Raketenangriff hat Russland ein Wohnhaus in der Stadt Mykolajiw getroffen. Der ukrainische Gouverneur des Gebietes Mykolajiw, Witali Kim, erklärte via Telegram, es gebe mehrere Tote und Verletzte nach dem Raketeneinschlag in dem fünfgeschoßigen Haus. Das Gebäude war durch den Beschuss eingestürzt.

Selenskyj nannte den Angriff eine „zynische Antwort auf unsere Erfolge an der Front“. Laut seinen Angaben wurde bei dem Angriff ein fünfstöckiges Wohnhaus getroffen und „vom fünften bis zum ersten Stock zerstört“. Das nahe der Front gelegene Mykolajiw ist seit Monaten Ziel russischer Angriffe. Die Stadt mit rund einer halben Million Einwohnerinnen und Einwohnern befindet sich rund 70 Kilometer nordwestlich der Stadt Cherson.

Neuer Gefangenenaustausch

Unterdessen tauschten Russland und die Ukraine erneut Gefangene aus. „Es ist gelungen, 45 Kämpfer der Streitkräfte zu befreien“, teilte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, am Freitag via Telegram mit. Es handle sich dabei um Soldaten und Unteroffiziere. Wie viele Soldaten an die russische Seite übergeben wurden, wurde bisher nicht mitgeteilt. Zuletzt hatte der Interimschef des von Russland beanspruchten ostukrainischen Luhansker Gebiets, Leonid Passetschnik, von mehr 35 Soldaten gesprochen, die ausgetauscht worden seien.