Menschen jubeln in Cherson
Reuters
Cherson befreit

„Historischer Tag“ für Ukraine

Nach dem Abzug der russischen Soldaten hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von einem weiteren Vorrücken der eigenen Truppen auf die Regionalhauptstadt Cherson im Süden des Landes berichtet. Erste Einheiten wurden jubelnd in der Stadt begrüßt. „Heute ist ein historischer Tag“, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache am Freitagabend.

Noch sei die Stadt nicht komplett von der „Präsenz des Feindes“ befreit, erklärte er. Ukrainische Spezialeinheiten seien aber bereits an Ort und Stelle. Die Bewohner von Cherson entfernten zudem selbstständig russische Symbole von Straßen und Gebäuden.

Selenskyj veröffentlichte auch ein Video, das Autokorsos und Jubelchöre für die anrückenden ukrainischen Soldaten zeigen soll. „Die Menschen in Cherson haben gewartet. Sie haben die Ukraine nie aufgegeben“, sagte der Staatschef. „Genau so wird es in den Städten sein, die noch auf unsere Rückeroberung warten.“

Menschen feiern ukrainische Soldaten in Cherson
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In Cherson strömten die Menschen auf die Straßen, um den russischen Abzug zu feiern

Schwere Niederlage für Russland

Unter dem Druck der ukrainischen Gegenoffensiven hatte Russland am vergangenen Mittwoch den Abzug der eigenen Truppen aus dem nordwestlich des Flusses Dnipro gelegenen Teil Chersons angekündigt. Dort liegt auch die gleichnamige Gebietshauptstadt Cherson. Es ist eine schwere Niederlage für Russland, auch wenn der Krieg damit längst nicht entschieden ist. Denn erstmals seit der Invasion hat Russland damit einen größeren Teil eines Gebiets wieder verloren, das es völkerrechtswidrig annektiert und vor diesem Hintergrund als eigenes Staatsgebiet bezeichnet hat.

Yurij Sak, Berater des ukrainischen Verteidigungsministers, sagte der BBC, dass noch einige russische Soldaten in Cherson seien. „Die Russen ziehen ihre Militäruniformen aus, werfen sie in die Mülltonnen und versuchen, sich unter die Einheimischen zu mischen. Wir fordern sie dringend auf, sich zu ergeben, ihr Leben zu retten und keine Dummheiten zu machen“, wurde Sak zitiert.

Die Rückzugsrouten der „russischen Invasoren“ seien unter Feuer der ukrainischen Armee, hieß es aus dem Verteidigungsministerium. „Jeder russische Soldat, der Widerstand leistet, wird eliminiert.“ Wer sich ergebe, werde jedoch am Leben gelassen, hieß es zudem. Dennoch sei es noch zu früh, „selbstzufrieden zu sein“, und das Land wisse, dass der Krieg noch lange nicht vorbei sei.

Moskau erklärte Abzug für beendet

Die russische Armee schloss Freitagfrüh nach eigenen Angaben ihren Rückzug aus dem Norden der ukrainischen Region Cherson ab. Die ukrainische Regionalverwaltung warnte die Bevölkerung eindringlich davor, ihre Häuser zu verlassen, bevor ukrainische Truppen die Stadt vollständig eingenommen haben und die Suche nach möglicherweise zurückgelassenen russischen Truppen abgeschlossen sei.

Russland beschießt aufgegebenes Gebiet

Unterdessen begann Russland eigenen Angaben zufolge mit Angriffen auf die gerade erst aufgegebene Region. „Aktuell werden Truppen und Militärtechnik der ukrainischen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro beschossen“, teilte Russlands Verteidigungsministerium am Freitag mit. Die ukrainische Seite hatte sich auf Angriffe auf die gerade erst zurückeroberten Orte bereits eingestellt.

Zuvor sei mit der strategisch wichtigen Antoniwka-Brücke die einzige nahe gelegene Straßenverbindung zur Stadt Cherson eingestürzt. Das meldete der ukrainische öffentlich-rechtliche Rundfunk Suspilne unter Berufung auf Angaben von Anrainern.

Stadtansicht von Cherson
APA/AFP/Andrey Borodulin
Blick auf Cherson, entlang der Stadt fließt der Dnipro – das Bild stammt von 20. Mai

Beim Rückzug auf das andere Flussufer seien viele russische Soldaten ertrunken, behauptete die Regionalverwaltung von Cherson. Das russische Verteidigungsministerium meldete am Freitag wiederum, mehr als 20 ukrainische Soldaten seien beim Versuch, den russischen Truppen nachzustellen, durch Minenfelder getötet worden, wie die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti berichtete. Diese Meldungen können derzeit nicht unabhängig überprüft werden.

Kreml: Gebiet Cherson bleibt Teil Russlands

Unterdessen sieht Moskau das ukrainische Gebiet Cherson auch nach dem Abzug seiner Truppen weiter als russisches Staatsgebiet an. Das Gebiet bleibe Teil der Russischen Föderation, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Die Frage, ob die Niederlage in Cherson nicht für Präsident Wladimir Putin erniedrigend sei, verneinte Peskow.

Russen ziehen aus Cherson ab

Die ukrainische Armee hat bei ihrer Gegenoffensive im Südosten der Ukraine einen bedeutenden Sieg errungen: Neun Monate nach Beginn des Krieges räumte die russische Armee am Freitag die strategisch wichtige Stadt Cherson und überließ das Feld den ukrainischen Streitkräften.

Verwüstungen und Minen

Bei ihrem Abzug aus Cherson haben russische Truppen nach Medienberichten die Stadt verwüstet. Neben dem TV-Zentrum seien unter anderem Fernheizungsanlagen und Funkmasten gesprengt worden, berichtete die „Ukrajinska Prawda“ am Donnerstag. Zudem sei in der Stadt der Strom komplett ausgefallen, ebenso das Internet. Bereits in den vergangenen Tagen waren mehrere Brücken über den Dnipro gesprengt worden.

Selenskyj: Besatzer verjagt

Selenskyj warnte vor Gefahren in den von den Besatzern aufgegebenen Gebieten. „Die erste und grundlegende Aufgabe ist die Minenräumung“, sagte er. Selenskyj wies darauf hin, dass die aktuellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte „durch Monate brutalen Kampfes“ erreicht worden seien. „Es ist nicht der Feind, der geht – es sind die Ukrainer, die die Besatzer verjagen“, sagte Selenskyj.

Tote bei russischem Angriff auf Wohnhaus in Mykolajiw

Unterdessen wurden bei einem russischen Angriff auf ein Wohnhaus in der südukrainischen Stadt Mykolajiw in der Nacht auf Freitag ukrainischen Angaben zufolge mindestens sieben Menschen getötet und weitere drei verletzt.

Neuer Gefangenenaustausch

Unterdessen tauschten Russland und die Ukraine erneut Gefangene aus. „Es ist gelungen, 45 Kämpfer der Streitkräfte zu befreien“, teilte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, am Freitag via Telegram mit. Es handle sich dabei um Soldaten und Unteroffiziere. Wie viele Soldaten an die russische Seite übergeben wurden, wurde bisher nicht mitgeteilt. Zuletzt hatte der Interimschef des von Russland beanspruchten ostukrainischen Luhansker Gebiets, Leonid Passetschnik, von mehr als 35 Soldaten gesprochen, die ausgetauscht worden seien.