Ein Mann fährt auf einem Motorrad mit ukrainischen Flaggen
Reuters/Valentyn Ogirenko
Cherson-Abzug

London ortet Imageschaden für Moskau

Der Jubel nach dem Abzug russischer Truppen aus der Stadt Cherson im Süden der Ukraine ist groß. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am Freitag von einem „historischen Tag“, in Cherson sei die Stimmung „euphorisch“, berichtete CNN am Samstag. Nach britischer Sichtweise könnten in Russland nun bestehende Zweifel am Krieg wachsen.

Russland hatte das Gebiet Cherson kurz nach Beginn seines Angriffskriegs Ende Februar weitgehend erobert. Im September ließ der Kreml Cherson – ebenso wie die ukrainischen Gebiete Saporischschja, Luhansk und Donezk – völkerrechtswidrig annektierten. Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven schließlich kündigte Moskau am vergangenen Mittwoch den Rückzug seiner Truppen aus allen Teilen Chersons, die nordwestlich des Flusses Dnipro liegen, an – darunter fällt auch die Hauptstadt des Gebiets.

Internationale Beobachter und Beobachterinnen werten das als eine der größten Niederlagen für die russische Armee in diesem Krieg. Nach britischer Einschätzung bedeutet die ukrainische Rückeroberung von Cherson einen erheblichen Imageschaden für Russland. „Der Rückzug ist eine öffentliche Anerkennung der Schwierigkeiten, mit denen die russischen Streitkräfte am Westufer des Flusses Dnipro konfrontiert sind“, kommentierte das Verteidigungsministerium in London heute.

Ressortchef Ben Wallace sprach von „einem weiteren strategischen Versagen“. Die russische Einnahme von Cherson zu Kriegsbeginn sei das einzige Mal gewesen, dass Russland ein wichtiges Ziel erreicht habe. Wenn die Stadt nun wieder aufgegeben werde, würden sich die Menschen in Russland mehr und mehr die Frage stellen, wozu der Krieg gut sei.

London: Rückzug schon früher

Das Ministerium bezweifelte, dass Russland das Gebiet mit Truppen und Material in kürzester Zeit evakuiert hat. Es sei vielmehr wahrscheinlich, dass der Rückzug bereits am 22. Oktober eingeleitet worden sei, als die russische Besatzungsverwaltung die Zivilbevölkerung aufforderte, die Stadt zu verlassen. Vermutlich habe Russland seitdem militärische Ausrüstung sowie Streitkräfte in Zivilkleidung gemeinsam mit 80.000 Zivilisten und Zivilistinnen aus der Stadt gebracht.

Das britische Ministerium teilte weiter mit, dass Russland weiterhin versuche, Einheiten aus anderen Teilen des Gebiets Cherson über den Dnipro in Verteidigungsstellungen zu bringen. „Russische Streitkräfte haben im Rahmen dieses Prozesses höchstwahrscheinlich Straßen- und Bahnbrücken über den Dnipro zerstört“, hieß es in London.

Das britische Verteidigungsministerium veröffentlicht seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Ende Februar unter Berufung auf Geheimdienstinformationen täglich Informationen zum Kriegsverlauf. Damit will die britische Regierung sowohl der russischen Darstellung entgegentreten als auch Verbündete bei der Stange halten. Moskau wirft London eine Desinformationskampagne vor.

Russland verlegt Verwaltungszentrum

Nach dem Rückzug aus Cherson verlegten die russischen Besatzer ihr regionales Verwaltungszentrum auf den noch von ihnen kontrollierten Teil des gleichnamigen Gebiets. Ein großer Teil der russischen Administration sei bereits in die Stadt Henitschesk umgesiedelt worden, meldeten Russlands staatliche Nachrichtenagenturen unter Berufung auf einen Sprecher der Chersoner Besatzungsverwaltung.

Menschen am Kiewer Maidan-Platz feiern die Befreiung der ukrainischen Stadt Cherson
APA/AFP/Genya Savilov
Der Jubel in der ganzen Ukraine kannte keine Grenzen

Henitschesk liegt ganz im Südosten von Cherson am Asowschen Meer und nur wenige Dutzende Kilometer von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim entfernt, die Moskau bereits 2014 annektiert hat.

Selenskyj: Infrastruktur der Stadt zerstört

Selenskyj sagte indes, dass mehr als 60 Siedlungen in der Region Cherson neu unter Kontrolle seien. In Cherson selbst würden „Stabilisierungsmaßnahmen“ durchgeführt. Die Besatzer hätten die gesamte kritische Infrastruktur der Stadt zerstört, als sie flüchteten, darunter die Wasser-, Wärme- und Stromversorgung. Die Nachrichtenagentur Ukrinform meldete, dass Polizei und Sicherheitskräfte bereits mit der Arbeit in der Gebietshauptstadt begonnen hätten.

Er kündigte die Befreiung weiterer von Russland besetzter Gebiete an. „Wir vergessen niemanden, wir werden niemanden zurücklassen“, sagte Selenskyj am Samstagabend in seiner täglichen Videoansprache. Auch auf der bereits 2014 von Moskau annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim werde irgendwann wieder die ukrainische Flagge wehen, versprach der Staatschef.

Cherson unter ukrainischer Kontrolle

Russland hatte das Gebiet Cherson kurz nach Beginn des Krieges Ende Februar weitgehend erobert und im September neben anderen Gebieten der Ostukraine annektiert. Vergangenen Mittwoch kündigte Moskau jedoch den Rückzug seiner Truppen aus allen Teilen Chersons, die nordwestlich des Flusses Dnipro liegen, an. Für die russische Armee ist das ein der größten Niederlagen in diesem Krieg.

Russland räumt Stadt bei Kachowka-Staudamm

Nach dem Truppenrückzug vom rechten Ufer des Flusses Dnipro in der südukrainischen Region Cherson kündigten die russischen Besatzer nun auch eine Evakuierung der Staudammstadt Nowa Kachowka auf der anderen Flussseite an. Die Verwaltung von Kachowka ziehe sich zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt an einen sicheren Ort zurück, teilte der örtliche Besatzungschef Pawel Filiptschuk nach Angaben der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass heute in einer Rede an die Bevölkerung mit. Er rief die Menschen in einer festgelegten Zone von 15 Kilometern auf, ihre Wohnungen zu verlassen.

Befürchtet wird, dass der Staudamm durch Beschuss zerstört und das Gebiet überflutet werden könnte. Russen und Ukrainer werfen sich seit Wochen gegenseitig vor, eine solche Provokation zu planen. Die ukrainischen Streitkräfte hätten die Verwaltung von Kachowka als „Ziel Nummer eins für einen Terroranschlag“ in der Region ausgemacht, behauptete Filiptschuk. Die Ukraine weist Sabotageabsichten zurück.

„Übersiedlung“ nach Krasnodar

Das Leben der Menschen sei durch Kampfhandlungen in Gefahr, sagte Filiptschuk. Die Menschen sollten in die südrussische Region Krasnodar gebracht und dort versorgt werden. Filiptschuk versprach den Flüchtenden eine warme Unterkunft, regelmäßige Mahlzeiten und 100.000 Rubel (rund 1.600 Euro) Hilfe. Die Ukraine wirft den Besatzern vor, die Menschen zu verschleppen.

Örtlichen Berichten zufolge waren die ukrainischen Einheiten bereits in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Staudamms vorgerückt. Russland hatte am Vortag den angekündigten Rückzug vom westlichen Ufer des Flusses Dnipro für abgeschlossen erklärt. Demnach zogen sich die russischen Soldaten auf das Gebiet östlich des Flusses zurück.

USA sicherte Ukraine dauerhafte Unterstützung zu

Die USA sagten der Ukraine unterdessen dauerhafte Unterstützung zu. Bei einem Treffen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba am Samstag am Rande des ASEAN-Gipfels in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh sagte US-Außenminister Antony Blinken, die Erfolge um Cherson seien ein weiteres Zeugnis für den bemerkenswerten Mut der Streitkräfte und des Volkes der Ukraine wie auch für die starke Unterstützung durch die USA und die Welt. Die sicherheitstechnische, humanitäre und wirtschaftliche Hilfe werde „so lange wie nötig“ fortgesetzt.

Menschen feiern ukrainische Soldaten in Cherson
Reuters
In Cherson strömten die Menschen auf die Straßen, um den russischen Abzug zu feiern

Blinken übte scharfe Kritik an Russland, das die Ukraine weiter „brutal behandelt“ – besonders mit seiner gezielten Kampagne, um die Energieinfrastruktur zu zerstören: „Alles, was notwendig ist, um Licht zu haben, Menschen im Winter warm zu halten.“ Die Angriffe hätten schreckliche Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung überall in der Ukraine. Die USA seien entschlossen, der Ukraine zu helfen, die kritische Infrastruktur zu verteidigen und zu ersetzen und zu reparieren, sagte Blinken.

Kuleba dankte für die Unterstützung. Bei seinen Gesprächen in Asien gehe es auch darum, andere Länder auf die Seite des Völkerrechts und einiger fundamentaler Grundsätze zu ziehen. Die russische Aggression richte sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen eben diese Prinzipien, auf denen die Welt aufgebaut sei, sagte Kuleba bei dem Treffen während des ASEAN-Gipfels.