Comics auf dem Buddenbrook-Haus in Lübeck
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Warnung an den Mittelstand

Von den Buddenbrooks zum Kryptocrash

Dass Wirtschaftswachstum in Wohlstandsentwicklung umgesetzt wird, ist in Zeiten des Finanzkapitalismus kein Selbstverständnis mehr. Wenn der Mittelstand zudem angeregt wird mitzuspekulieren, dann sind böse Überraschungen nicht ausgeschlossen. Das zeigt schon lange vor dem FTX-Desaster die Geschichte der Hanseatenfamilie Buddenbrook, wie sie Thomas Mann erzählt hat. Ja, Warnungen gab es eigentlich schon in Johann Wolfgang von Goethes „Faust II“.

„Die moderne Geldwirtschaft als Fortsetzung der Alchemie mit anderen Mitteln“ hat schon der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger zur zentralen Erkenntnis aus Goethes „Faust II“ erhoben. Werteschaffung aus dem Nichts, so liest Binswanger die Vorahnung des Weimarer Geheimrates zu den Spielmöglichkeiten einer modernen Papiergeldwirtschaft, ohne etwa Systeme wie jenes von Bretton Woods zu kennen.

Mit dem 15. August 1971 habe US-Präsident Richard Nixon die Spielregeln der Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit geändert, „indem er die Goldwertkonvertibilität des US-Dollars aufkündigte“, befindet nicht nur der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey. Verkürzt: Das System fester Wechselkurse, die über das Bretton-Woods-Arrangement verbürgt waren, brach zusammen – und eine neue Spielordnung musste für die Währungs- und Handelssysteme gefunden werden.

Der Wertewandel seit den 1970ern

In den frühen 1970er Jahren begann das, was für die Gegenwart immer noch prägend ist: der „lange Abschwung“ der Weltwirtschaft, wie es etwa der US-Historiker Robert Brenner formuliert. Betrugen die Wachstumsraten der „Goldenen Jahre“ der Weltwirtschaft zwischen 1950 und 1973 etwa in Westeuropa 4,9 Prozent, sanken sie in der jüngeren Gegenwart (vor Pandemie und Ukraine-Krieg) auf durchschnittliche zwei Prozent.

Reinhild Solf als Antonie Buddenbrook, Ruth Leuwerik als Konsulin Buddenbrook und Volker Kraeft als Thomas Buddenbrook.
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So stellte man sich 1980 im westdeutschen Fernsehen den Verfall einer hanseatischen Bürgerfamilie vor. Da waren auch in der BRD die „fetten Jahre“ vorbei.

„We are all Keynesians now“

Eric Hobsbawm sah darin den Anfang der Erosion der sozialen Moderne. Es galten Gleichungen nicht mehr, dass Wirtschaftsaufschwung, Wohlstands- und Demokratieentwicklung Hand in Hand gingen (eine Gleichung, die später durch China ohnedies infrage gestellt wurde, wo wirtschaftlicher Aufschwung und Wohlstandsverbesserung auch in einem totalitären System zu haben waren). „We are all Keynesians now“, hatte Nixon schon 1971 propagiert.

Die Formel, Geld in eine schwächelnde Konjunktur zur Nachfragestimulation zu pumpen, sollte in Österreich SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky zeitversetzt vollziehen – auch, um sein soziales Umbaumodell der Gesellschaft absichern zu können. Das Fiasko der staatsnahen Betriebe in den 1980ern mag man auch als Ausdruck deuten, wie heimische Firmen nicht mit der Internationalisierung der Firmenkulturen mithalten konnten, wie es etwa der Historiker Oliver Rathkolb in seinem Buch „Die paradoxe Republik“ beschrieben hat.

. Der amerikanische Präsident Richard Nixon wird von Bundeskanzler Bruno Kreisky auf dem Flughafen in Salzburg empfangen. Photographie. 1972.
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„We are all Keynesians now“ – der österreichische Kanzler Kreisky empfängt 1972 US-Präsident Nixon auf dem Salzburger Flughafen

Kapitalismus fast ohne Wachstum?

War man bis in die 1970er, in Österreich sogar bis in die 1980er, eine Politik der Langfristigkeit gewohnt, so zogen neue Kennziffern in der Bewertung von Unternehmenserfolgen ein. Die Logik des Kapitalmarktes ging auf die Bewertung der Produktionsökonomie über. „Teile der Profite der eigentlichen Wertschöpfung wurden fortan in die Finanzmärkte gepumpt und damit nicht reinvestiert“, erinnert Nachtwey an den Übergang von der „sozialen Moderne“ zu einem „Kapitalismus (fast) ohne Wachstum“. In Nachtweys Modell ist der Finanzmarktkapitalismus eine Antwort und direkte Reaktion auf die Wachstumskrise.

Entscheidend ist freilich nicht die ideologische Bewertung dieser These, sondern der Blick auf einen Verschubvorgang: Das, was der Staat zur Wohlstandsentwicklung und -absicherung in den Markt gepumpt hat, verlagert sich ins Private. Denn der Mittelstand soll seine Erträge im Finanzmarkt anlegen, um dem eigenen wirtschaftlichen Standing eine Langfristigkeit zu geben. Landläufig spricht man gerne von der Entkoppelung der realwirtschaftlichen Entwicklung von der Finanzwirtschaft. Tatsächlich, so lässt sich zeigen, entstand ja der Finanzkapitalismus in direkter Antwort auf die Realwirtschaft, weil die Profitraten der Privatwirtschaft gesunken waren.

Was ist der „kollektive Buddenbrooks-Effekt“?

„Wie Thomas Buddenbrook in Thomas Manns berühmtem Roman verlassen die Menschen den vertrauten Pfad des ökonomischen Handelns, um durch spekulative Geschäfte eine schnellere und höhere Rendite zu erzielen“, schreibt Nachtwey und folgt damit dem Diktum vom „kollektiven Buddenbrooks-Effekt“ seines Kollegen Christoph Deutschmann. Der Germanist würde dagegen einwenden, hätte es diesen kollektiven Buddenbrooks-Effekt gegeben, würden alle im Privaten zumindest perfekt Wagner spielen.

Buchhinweis

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Suhrkamp, 264 Seiten, 18,80 Euro.

Buchcover Abstiegsgesellschaft
Suhrkamp

Die These, dass man nicht mehr konventionell wirtschaftet, sondern spekuliert, ist einem anderen Umstand genau dieser Buddenbrookisierung geschuldet. Die Buddenbrooks lebten vor, was ihnen die Post-68er nachmachten, wie zuletzt hier gezeigt: Wohlstandsabsicherung führt zum Wertewandel.

Im Fall der Buddenbrooks ist es ja nicht Thomas Buddenbrook, sondern seine Frau Gerda, die seit ihrer Entdeckung des Wagnerismus das Kammerspiel der Kultur im eigenen Haus höher einschätzt als das Funktionieren des Handelshauses samt der dazugehörenden gesellschaftlichen Illusion. Der Konsul geht auch aus einer gewissen Fadesse an die Börse und beginnt mit den Werten der Familie auf einer anderen Ebene zu spielen. Es ist das Übermaß an Hochkulturorientierung, könnte man spitz sagen, das den Abstieg einleitet. Kultur, und nirgends wüsste man das besser als in Österreich, ist eben nicht der Einstieg in die Selbstkritik, sondern die Pflege des Kulissenbewusstseins.

Der gegenwärtige Zerfall der Mitte

Die Gegenwart mag „Die Buddenbrooks“ natürlich als schrullige hanseatische Wohlstandsgeschichte lesen. Auf einer anderen Ebene dürfte sie aber gewarnt sein: Eine zu sehr an Lifestyle- und Gruppierungswerten geschuldete Kultur könnte die ökonomische Absicherung der eigenen Ansprüche vergessen und zu sehr die Werteausdifferenzierung feiern, während der ökonomische Boden zerfällt. Eine radikale Wirtschaftskritik ist aus diesem Lager ja nicht wie in den 1960er oder 1970er Jahren zu erwarten.

Umso mehr könnte die Selbsttäuschung fatal sein. Der „Zerfall der Mitte“, wie zuletzt anhand der Sinus-Milieu-Studie (mehr dazu in Abschied von der gemeinsamen Mitte) belegt, ist nicht nur eine Aufsplitterung in immer mehr Wertecluster in der oberen, mittleren und unteren Mittelschicht. Die Absicherung dieser Mittelschicht steht nicht zuletzt im Winter 2022/2023 mehr auf dem Spiel als in den Jahren davor. Die Lust, auf Renditebonanzas in der Kryptoblase zu setzen, könnte auch abnehmen.

„Krypto ist das neue Wetten“, schrieb Martin Hock kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“): „Viele Kryptofans sind eben hart im Nehmen – wie gewonnen, so zerronnen. Hört man sich so manches ältere Influencer-Video auf YouTube an und mit welcher Begeisterung dort Namen wie Celsius, Voyager oder eben auch FTX als tolle Verdienstmöglichkeiten empfohlen werden, fragt man sich schon, bei wem als Nächstes alles futsch ist. Und ob am Ende nicht auch die ganze Szene gefährdet ist.“