Umgestürzter Traktoranhänger neben einem Bombenkrater im polnischen Dorf Przewodow
Reuters/Ugc
Zwei Tote

NATO berät nach Raketeneinschlag in Polen

Der Einschlag von zwei mutmaßlich verirrten russischen Raketen in Polen mit zwei Toten hat am Dienstagabend für Furcht vor einer Eskalation des Ukraine-Krieges gesorgt. Die NATO hat eine Krisensitzung für Mittwochfrüh anberaumt. Die polnische Regierung bestätigte den Einschlag einer Rakete aus russischer Produktion auf polnischem Staatsgebiet. Wer sie abgeschossen hat, ist dennoch nicht restlos geklärt.

Zuvor hatte ein Regierungssprecher in Warschau erklärt, man habe gemeinsam mit den NATO-Verbündeten beschlossen, zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel vier des NATO-Vertrags einzuleiten. Artikel vier sieht Beratungen der NATO-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht.

Der Einschlag im Dorf Przewodow habe sich am Dienstag um 15.40 Uhr ereignet, dabei seien zwei polnische Staatsbürger getötet worden, teilte die polnische Regierung mit. Mit der Herkunft der Rakete ist allerdings noch nicht geklärt, welches Land sie eingesetzt hat. Sowohl die Ukraine als auch Russland verwenden Raketen sowjetischer Konstruktion.

Auch Polen vorsichtig bei Schuldzuweisung

Polens Präsident Andrzej Duda sagte, es gebe „keine definitiven Beweise“, wer die Rakete abgefeuert habe. Es handle sich „höchstwahrscheinlich um eine Rakete aus russischer Produktion, aber das wird derzeit noch untersucht“, so Duda. Weiters handle es sich um einen „einmaligen Vorfall“, es gebe „keine Anzeichen“, dass sich das Ereignis wiederholen werde.

Der polnische Präsident Andrzej Duda
AP/Peter Dejong
Polens Präsident Andrzej Duda

In den sozialen Netzwerken kursieren Bilder, auf denen Raketenteile zu sehen sind, die angeblich für die Explosion in Polen verantwortlich sein sollen. Von der BBC befragte Experten meinen, dass es sich dabei um das in der ehemaligen Sowjetunion entwickelte S-300-System handeln könnte. Dieser Raketentyp wird in der Regel für Boden-Luft-Angriffe verwendet, allerdings ist er von Russland auch für Bodenangriffe verwendet worden. Und diese Raketen wurden während des gesamten Krieges auch von der Ukraine eingesetzt.

Streitkräfte in Alarmbereitschaft

Warschau habe den russischen Botschafter einbestellt, sagte der Sprecher des Außenministeriums weiter. Er betonte, dass am Dienstag ein heftiger Beschuss des gesamten ukrainischen Territoriums und seiner kritischen Infrastruktur durch die russische Armee zu beobachten gewesen sei. Das Dorf Przewodow liegt etwa 60 Kilometer Luftlinie entfernt von der westukrainischen Stadt Lwiw, die auch Ziel russischer Angriffe war.

Nach dem Vorfall versetzte Polen einen Teil seiner Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft. Das gelte auch für andere uniformierte Dienste, sagte ein Regierungssprecher am Dienstagabend in Warschau. Es gehe dabei um bestimmte militärische Kampfeinheiten sowie die Kampfbereitschaft von Einheiten der uniformierten Dienste, sagte er, ohne weitere Einzelheiten zu nennen.

Explosion an der Grenze

Zu der Explosion kam es in einem polnischen Ort etwa sechs Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt auf einem landwirtschaftlichen Betrieb. Zunächst hatte der private polnische Radiosender ZET berichtete, zwei verirrte Raketen seien in einem polnischen Dorf nahe der Grenze eingeschlagen.

Umgestürzter Traktoranhänger neben einem Bombenkrater im polnischen Dorf Przewodow
Reuters/Ugc
Der Krater nach dem Einschlag

Auch die AP zitierte einen hochrangigen US-Geheimdienstmitarbeiter mit der Aussage, die Explosion sei auf russische Raketen zurückzuführen, die in polnisches Gebiet eingedrungen seien.

Russland und Ukraine dementieren

Das russische Militär wies Berichte über den Absturz angeblich russischer Raketen als „gezielte Provokation“ zurück. Es seien keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Dienstagabend mit. Auch die in polnischen Medien verbreiteten Fotos angeblicher Trümmerteile hätten nichts mit russischen Waffensystemen zu tun, hieß es.

Die Ukraine wies ihrerseits Mutmaßungen zurück, dass eine ihrer Raketen das Nachbarland getroffen habe. „Russland verbreitet nun eine Verschwörungstheorie, dass es angeblich eine Rakete der ukrainischen Luftabwehr war, die auf Polen niederging“, schrieb Außenminister Dmytro Kuleba am Dienstagabend auf Twitter. „Das ist nicht wahr.“

Internationale Krisendiplomatie

Nach der Explosion sprach Polens Staatsoberhaupt Duda mit US-Präsident Joe Biden und mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Das teilte Dudas Kanzleichef Jakub Kumoch per Twitter mit. Das Weiße Haus bestätigte das Gespräch mit Biden laut mitreisenden Journalisten am Rande des G-20-Gipfels auf der indonesischen Insel Bali. Man arbeite mit Polen zusammen, um mehr Informationen zu bekommen, hieß es.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte nach den Berichten über Raketeneinschläge in Polen vor voreiligen Reaktionen: „Wichtig ist, dass alle Tatsachen festgestellt werden“, schrieb Stoltenberg am Dienstag nach einem Telefonat mit dem polnischen Präsidenten Duda auf Twitter. „Die NATO beobachtet die Situation, und die Bündnispartner stimmen sich eng ab“, betonte Stoltenberg.

EU steht laut Michel Polen bei

Die Ukraine hatte zuvor eine geeinte Reaktion gegen Russland gefordert. Ein NATO-Gipfel unter Teilnahme der Ukraine sollte weitere Schritte ausarbeiten, hatte Kuleba am Dienstag vorgeschlagen. An den Vorfall knüpfte er die Forderung nach besserer Flugabwehr und US-Kampfjets der Typen F-15 und F-16 für Kiew. „Heute bedeutet Schutz für den Himmel der Ukraine auch Schutz für die NATO“, schrieb Kuleba auf Twitter.

Die Europäische Union steht nach den Worten von EU-Ratspräsident Charles Michel an der Seite Polens. Er stehe zudem mit den polnischen Behörden, Mitgliedern des Rates und anderen Verbündeten in Kontakt, schrieb Michel auf Twitter.

Von der Leyen besorgt

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich besorgt über die Berichte. „Ich bin alarmiert über Berichte über eine Explosion in Polen, nach einem massiven russischen Raketenangriff auf ukrainische Städte“, schrieb von der Leyen auf Twitter. „Wir beobachten die Situation genau und stehen in Kontakt mit den polnischen Behörden, Partnern und Verbündeten.“ Auch EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola äußerte sich bestürzt.

Litauen, Lettland, Estland, Norwegen, Belgien und Tschechien erklärten in ersten Reaktionen, sie bemühten sich um weitere Informationen. „Russlands Leichtsinn gerät außer Kontrolle“, schrieb der slowakische Verteidigungsminister Jaroslav Nad auf Twitter.

Auch Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron stand in Kontakt mit Polen. Der Präsident habe mit den polnischen Behörden Kontakt aufgenommen und halte sich über die Lage auf dem Laufenden, teilte der Elysee-Palast am Dienstagabend in Paris mit. Der G-20-Gipfel Mittwochfrüh werde ein wichtiger Moment sein, um Frankreichs große Partner zu sensibilisieren, wie es der Präsident seit Beginn des Krieges tue, hieß es weiter.