Forensiker untersuchen den Bombenkrater im polnischen Dorf Przewodow
APA/AFP/Polish Police
Querschläger aus Ukraine

Raketentreffer in Polen kein NATO-Bündnisfall

Ein Raketeneinschlag in Polen mit zwei Toten hat Spekulationen um einen NATO-Bündnisfall ausgelöst. Dieser blieb aber aus. Denn die Rakete war nach Einschätzung Polens und der NATO nicht von Russland, sondern von der Ukraine abgefeuert worden – und unabsichtlich auf polnischem Staatsgebiet niedergegangen. Trotzdem sieht der Westen letztlich Moskau in der Verantwortung.

Der Vorfall sei wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einer Dringlichkeitssitzung in Brüssel am Mittwoch. Es gebe keine Hinweise, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die NATO vorbereite, fügte er hinzu.

„Aber was wir wissen ist, dass der wahre Grund für den Vorfall der russische Krieg in der Ukraine ist.“ Die Ermittlungen seien zwar noch nicht abgeschlossen. „Das ist aber nicht die Schuld der Ukraine.“ Russland müsse diesen „sinnlosen Krieg“ beenden. „Die NATO ist bereit zu handeln in einer entschlossenen, ruhigen und resoluten Art.“

Rakete in Polen nicht aus Russland

Der Raketeneinschlag in einem polnischen Dorf, der zwei Menschenleben gefordert hat, hat eine Alarmstimmung ausgelöst. Die Raketen stammen aber nicht aus Russland, sondern von der ukrainischen Luftabwehr.

Auch US-Präsident Joe Biden hatte zuvor erklärt, es sei unwahrscheinlich, dass diese Rakete in Russland abgefeuert wurde, und von einem Zwischenfall an der polnischen Grenze zur Ukraine durch eine fehlgeleitete ukrainische Luftabwehrrakete gesprochen.

Duda: „Keine vorsätzliche Handlung“

Polens Präsident Andrzej Duda sagte in Warschau: „Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlichen Angriff auf Polen handelte“, sagte Duda. „Was passiert ist, nämlich dass eine Rakete auf unser Territorium fiel, war keine vorsätzliche Handlung. Es war keine gezielte Rakete, die auf Polen gerichtet war.“

Nach einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats gab Duda Entwarnung für die polnische Bevölkerung. Es bestehe derzeit keine „eindeutige oder bekannte direkte Gefahr“ für das Land und seine Bürger, sagte der polnische Präsident in Warschau. Es gebe außerdem auch keine Signale dafür, dass sich ein derartiges Ereignis wiederholen könnte.

General Brieger zum Raketeneinschlag in Polen

Der Vorsitzende im EU-Militärausschuss, General Robert Bieger, spricht unter anderem über den Raketeneinschlag in Polen. Des Weiteren bespricht er, ob wirklich jemand daran geglaubt hatte, dass Russland absichtlich Raketen auf Polen geschossen hat.

Selenskyj: „Denke, es war russische Rakete“

Nach bisherigen Erkenntnissen sei die Flugabwehrrakete eine S-300 aus russischer Produktion, die in den 70er Jahren hergestellt wurde. Am Ort der Explosion in dem ostpolnischen Dorf Przewodow seien Trümmer eines solchen Flugabwehrgeschoßes gefunden worden, schrieb Polens Justizminister Zbigniew Ziobro am Mittwoch auf Twitter. Dieses werde sowohl von der russischen als auch von der ukrainischen Armee eingesetzt. „An Ort und Stelle arbeitet ein Team aus polnischen Staatsanwälten und technischen Sachverständigen. Auch amerikanische Experten waren dort.“

Selenskyj zweifelte an, dass es sich um ein ukrainisches Geschoß gehandelt habe. „Kann man Fakten oder irgendwelche Beweise von den Partnern erhalten?“, fragte er am Mittwoch vor Journalisten in einem im Fernsehen ausgestrahlten Interview. Der Staatschef forderte den Einsatz einer gemeinsamen Untersuchungskommission und Zugang zu den vorhandenen Daten. „Ich denke, dass es eine russische Rakete war – gemäß dem Vertrauen, das ich zu den Berichten der Militärs habe.“

Umgestürzter Traktoranhänger neben einem Bombenkrater im polnischen Dorf Przewodow
Reuters/Ugc
Der Krater nach dem Einschlag

Den ukrainischen Daten zufolge passe von insgesamt 25 russischen Raketenschlägen auf die Westukraine einer zeitlich mit dem Einschlag in Polen zusammen. Zudem stellte er die Frage: „Kann ein Krater mit einem Durchmesser von 20 Metern und einer Tiefe von fünf Metern durch Trümmer verursacht worden sein oder nicht?“ Sollte sich trotz seiner Zweifel herausstellen, dass eine ukrainische Rakete für den Tod von zwei Polen verantwortlich war, stellte Selenskyj eine Entschuldigung in Aussicht.

Angriffe auf Energieversorgung

Nach Angaben der polnischen Regierung war am Dienstag eine „Rakete aus russischer Produktion“ in ein Getreidedepot in Przewodow sechs Kilometer von der Grenze entfernt eingeschlagen. Nach Feuerwehrangaben wurden dabei zwei Menschen auf einem landwirtschaftlichen Betrieb getötet. Polen versetzte daraufhin einen Teil seiner Streitkräfte in eine höhere Bereitschaft.

Russland hatte in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine am Dienstag einen heftigen Raketenangriff auf die Energieversorgung des Landes durchgeführt. Nach ukrainischer Zählung feuerten die russischen Streitkräfte mehr als 90 Raketen sowie Kampfdrohnen ab. Für etwa zehn Millionen Menschen fiel zeitweise der Strom aus.

Moskau wirft Polen Irreführung vor

Moskau bestritt, Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen zu haben und warf Polen am Mittwoch eine irreführende Informationspolitik vor. Die polnische Führung habe jede Möglichkeit gehabt, sofort zu sagen, dass es um Teile eines Flugabwehrsystems S-300 geht, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow in Moskau. „Dann hätten alle Experten sofort verstanden, dass es keine Rakete sein kann, die etwas mit den russischen Streitkräften zu tun hat“, wurde Peskow in russischen Nachrichtenagenturen zitiert.

Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew warnte auf Twitter: „Die Geschichte mit den ukrainischen ‚Raketenschlägen‘ auf eine polnische Farm beweist nur eins: Der Westen erhöht durch seinen hybriden Krieg gegen Russland die Wahrscheinlichkeit für den Beginn des Dritten Weltkrieges.“

Lawrow-Sprecherin witzelt über Einschlag

Die Ukraine habe immer in die NATO eintreten wollen, nun sei sie mit Gewalt eingedrungen – mit einer S-300, griff Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa auf ihrem Telegram-Kanal einen Witz auf, der zuvor bereits in sozialen Netzwerken kursierte. Anschließend forderte sie Polen zu einer Entschuldigung auf.

„Der Präsident Polens hat den Absturz der Rakete einen ‚Unglücksfall‘ genannt.“ Zuvor hätten polnische Politiker jedoch „Hysterie“ verbreitet, sich zu „russophoben Ausfällen“ hinreißen lassen und den russischen Botschafter einbestellt. Kurz darauf teilt das Außenministerium in Moskau mit, man habe den polnischen Botschafter einbestellt.

ORF-Analyse: Raketen in Polen

Die ORF-Korrespondenten Raffaela Schaidreiter, Paul Krisai und Alexander Kofler berichten über den Raketeneinschlag in Polen. Des Weiteren erläutern sie, wie Polen reagiert hat und ob das ein gefährlicher Zwischenfall war, da Polen Mitglied der NATO ist.

Ukraine dringt auf Flugverbotszone

Die Ukraine machte Russland für den Tod der zwei Menschen verantwortlich. „Für die steigenden Risiken in angrenzenden Ländern ist allein Russland verantwortlich“, schrieb der Berater im ukrainischen Präsidentenamt, Mychajlo Podoljak, auf Twitter.

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow forderte die Einrichtung einer Flugverbotszone. Das sei erforderlich, um unkontrollierte Raketen abzuschießen und auch die EU- und NATO-Staaten zu schützen. „Das ist die Realität, vor der wir gewarnt haben“, fügte Resnikow hinzu. Die Ukraine hat wegen russischer Luftangriffe vom Westen schon mehrfach eine solche Flugverbotszone verlangt.

Berlin und London: Moskau verantwortlich

„Die Welt weiß, dass Russland die letzte Verantwortung für diesen Vorfall trägt“, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. „Die Ukraine hatte – und hat – jedes Recht, sich zu verteidigen“, betonte eine Sprecherin des nationalen Sicherheitsrats. Russland sei verantwortlich, weil es massenhaft Raketen insbesondere auf die zivile Infrastruktur der Ukraine abgeschossen habe.

Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der britische Premierminister Rishi Sunak gaben Russland die grundsätzliche Schuld. „Ohne den russischen Krieg gegen die Ukraine, ohne die Raketen, die jetzt intensiv und in großem Ausmaß auf die ukrainische Infrastruktur verschossen werden“, wäre der Einschlag nicht passiert, sagte Scholz. Sunak sagte, die Ukraine setze Raketen ein, um sich gegen „eine illegale und barbarische Angriffsserie Russlands“ zu verteidigen.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) mahnte „Besonnenheit“ ein. „Besonnenheit ist gerade in Zeiten des Krieges das Gebot der Stunde“, sagte Nehammer nach dem Ministerrat am Mittwoch in Wien. Gleichzeitig verurteilte er die Raketenangriffe Russlands „aufs Schärfste“.

Krisenberatungen bei G-20 und NATO

Biden versammelte Staats- und Regierungschefs der G-7-Staaten und weiterer Partner am Rande des G-20-Gipfels auf der indonesischen Insel Bali, um über den Raketeneinschlag zu beraten. „Wir bieten Polen unsere volle Unterstützung und Hilfe bei den laufenden Ermittlungen an“, hieß es danach in einer Erklärung. „Wir verurteilen die barbarischen Raketenangriffe, die Russland am Dienstag auf ukrainische Städte und zivile Infrastrukturen verübt hat.“

In einer gemeinsamen Abschlusserklärung verurteilten „die meisten Mitglieder“ der G-20 den russischen Angriffskrieg aufs Schärfste. Russlands Position wird in der Erklärung mit dem Satz berücksichtigt: „Es gab andere Auffassungen und unterschiedliche Bewertungen der Lage und der Sanktionen.“

Artikel vier und Artikel fünf

In Brüssel berieten Vertreter der NATO-Staaten über den Vorfall. Stoltenberg zufolge wurde aber kein Verfahren nach Artikel vier des NATO-Vertrags eingeleitet. „Das basiert auf den Erkenntnissen, der Analyse und den bisherigen Ergebnissen der laufenden Untersuchung“, sagte er. Der NATO-Generalsekretär sagte, dass der Vorfall nicht die Merkmale eines Angriffs aufweise.

Artikel vier sieht Beratungen der NATO-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Gemeinsame Schritte gehen daraus jedoch nicht zwingend hervor, wie Diplomaten betonen.

Der Bündnisfall ist in Artikel fünf des Nordatlantik-Vertrags von 1949 geregelt. Dieser sieht bei einem „bewaffneten Angriff“ auf einen oder mehrere Mitgliedsstaaten eine kollektive Antwort vor. Sicherheitsexperten betonen, dass sich daraus nicht automatisch ein militärischer Gegenschlag der Militärallianz ergibt. Denn der Bündnisfall muss einstimmig von den NATO-Ländern beschlossen werden. Auch dann können sich die Staaten laut NATO-Vertrag für andere Mittel als einen Militärschlag entscheiden.

9/11 löste Bündnisfall aus

Artikel fünf wurde in der gut 73-jährigen NATO-Geschichte nur ein einziges Mal von einem Mitgliedsland bemüht: von den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Im Oktober 2001 verkündete der damalige NATO-Generalsekretär George Robertson, dass die USA unter Präsident George W. Bush Beweise für die Verantwortung des Terrornetzwerks Al-Kaida hätten. Kurz darauf beschlossen die Bündnisländer den Bündnisfall. Folge war der langjährige Militäreinsatz in Afghanistan.

EU hat Beistandsklausel

Eine Beistandsklausel hat die EU. Sie ist seit 2009 in Artikel 42 Absatz sieben des EU-Vertrags festgeschrieben. Im Falle eines „bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats“ sind die anderen EU-Länder verpflichtet, den Partner zu unterstützen. Ob die Hilfe militärisch oder auf andere Art erfolgt, ist Sache der einzelnen Länder. Die Klausel wurde noch nie aktiviert – auch wenn Frankreich das nach den Pariser Terroranschlägen mit 130 Toten vom November 2015 zunächst erwog.