Eingestürzte Antoniwka-Brücke über den Fluss Dnipro nahe der Stadt Cherson in der Ukraine
Reuters
Ukraine

Dnipro dürfte länger Front bleiben

Nach der Befreiung der südukrainischen Stadt Cherson und dem Abzug der russischen Armee an das südöstliche Flussufer des Dnipro gibt es Anzeichen dafür, dass der Fluss für einige Zeit die Frontlinie im Süden bleiben wird. Einerseits deutet – auch angesichts der Witterung – wenig auf einen ukrainischen Vorstoß in Richtung Ostufer hin, andererseits scheinen sich die russischen Verbände mehrere Kilometer hinter der Frontlinie zur Verteidigung positioniert zu haben.

Erklärtes Ziel der Ukraine ist ja die Rückeroberung des Oblast Cherson bzw. auch der Krim. Wenn zumindest ein Schritt in diese Richtung gelingen soll, müssen die ukrainischen Truppen auf das andere Flussufer des Dnipro. Die wichtigsten Verbindungen von Cherson aus sind aber zerstört: etwa die Antoniwkabrücke nordöstlich des Stadtzentrums. Die nächste Straßenbrücke liegt etwa 70 Kilometer weit von Cherson entfernt, an der Staudammstadt Nowa Kachowka – die Beschaffenheit der Fahrbahn ist unklar.

London: Russen treffen Vorkehrungen zur Verteidigung

Auf der anderen Seite würden sich die russischen Truppen nach Ansicht britischer Militärfachleute auf weitere Rückschläge vorbereiten. Das ging am Freitag aus dem täglichen Geheimdienstupdate des Verteidigungsministeriums in London hervor. So fokussierten sich die russischen Streitkräfte nach ihrem Rückzug vom nordwestlichen Ufer des Flusses Dnipro in den meisten der von ihnen besetzten Teile des Landes darauf, sich neu zu ordnen und Vorkehrungen zur Verteidigung zu treffen – auch im Gebiet neben dem südöstlichen Flussufer.

So seien nahe der Grenze zu der von Russland bereits seit 2014 von Russland besetzten Halbinsel Krim neue Schützengräben ausgehoben worden. „Die Standorte befinden sich teilweise bis zu 60 Kilometer hinter dem aktuellen Frontverlauf, was nahelegt, dass die russischen Planer Vorbereitungen treffen für den Fall weiterer größerer ukrainischer Durchbrüche“, heißt es in der Mitteilung aus London. Gleichzeitig brachten die ukrainischen Streitkräfte ihre Geschoße näher an der Krim in Stellung.

„Teilweise verwundbar“

Das Institute for the Study of War (ISW), ein US-Thinktank, schrieb zuletzt, dass die Ukraine zwar wohl über die Mittel verfüge, um der russischen Armee auf die andere Flussseite zu folgen, doch werde das wahrscheinlich nicht passieren, „da die Logistik für einen Brückenkopf am Ostufer sehr schwierig ist“, wie es hieß. Generell, so Fachleute, sei ein solcher Vorstoß äußerst riskant – aufgrund der russischen Verteidigungslinien.

Aktuell heißt es, dass die russischen Truppen im Osten des Oblast Cherson wohl teilweise verwundbar seien, sollten die ukrainischen Truppen in der Weise wie bereits zuletzt auf die Stadt Cherson vorrücken. Zudem hätte die russische Armee Truppen aus dem Gebiet in die östliche Region Donezk verlegt, weil diese im Zuge des Rückzugs aus dem Gebiet Cherson freigeworden seien.

Front insgesamt kaum verändert

Generell hat sich der Frontverlauf seit der erfolgreichen ukrainischen Rückeroberungsoffensive bei Charkiw Anfang September wenig geändert. Russland habe Verteidigungsvorbereitungen auf der Gesamtlänge der Front durchgeführt, sagte zuletzt Oberst Berthold Sandtner, Forscher am Wiener Institut für Höhere Militärische Führung an der Landesverteidigungsakademie, gegenüber der APA. Derzeit seien die russischen Streitkräfte nicht im größeren Maße offensivfähig. Das Schwergewicht liege auch ganz eindeutig auf der Stabilisierung der Front.

Abhängig von den Witterungsbedingungen könnte es aber Anfang des kommenden Jahres zu neuen russischen Offensiven kommen. Dazu werden derzeit in Russland die übrigen 200.000 im Rahmen der Teilmobilmachung einberufenen Soldaten formiert, ausgebildet und ausgerüstet. Obwohl die Teilmobilmachung offiziell abgeschlossen ist, sei davon auszugehen, dass sie im Stillen fortgesetzt wird und die Zahl durchaus auf eine halbe Million Soldaten steigen wird.

Russische Offensive im Jänner?

Ende November, Anfang Dezember dürfte die Ausbildung der 200.000 Männer abgeschlossen sein. Die russische Armee könnte dann im Jänner, wenn die Böden wieder gefroren sind und man sich besser im Gelände bewegen kann, eine Offensive starten. „Derzeit ist die schlechteste Jahreszeit. Es regnet, es ist nass und matschig.“

Heftige Kämpfe im Donbas

Aktuell liefern sich ukrainische und russische Truppen im Donbas heftige Gefechte, wobei der Frontverlauf sich auch dort kaum verändert. Das geht aus den militärischen Lageberichten beider Seiten für Freitag hervor, in denen die Angaben weitgehend einander entsprachen. Der ukrainische Generalstab meldete am Freitag im Donbas Artillerie- und Panzerbeschuss auf Dörfer wie Wodjane, Krasnohoriwka und Marjinka bei der Stadt Awdijiwka.

Das von der Ukraine kontrollierte Awdijiwka liegt wenige Kilometer nördlich von Donezk. Weil dort schon seit 2014 die Front zwischen ukrainischen Kräften und den von Moskau kontrollierten Separatisten verläuft, sind die Stellungen der Ukraine gut ausgebaut. In den fast neun Monaten seit dem russischen Einmarsch am 24. Februar haben die russischen Kräfte nur geringe Geländegewinne erzielt. Das russische Verteidigungsministerium teilte aber mit, das Dorf Opytne nördlich von Donezk sei erobert worden.

Feuer in einem Haus in Bachmut, Ukraine
APA/AFP/Dimitar Dilkoff
Brand im Zuge des Raketenbeschusses in Bachmut

Kämpfe auch in Region um Bachmut

Weiterer Schwerpunkt der Gefechte ist laut Lagebericht des ukrainischen Generalstabs die Region um die Stadt Bachmut. Dort seien ukrainische Stellungen mit Panzern, Minenwerfern, Rohr- und Raketenartillerie beschossen worden. Auch hier ist der Frontverlauf seit Monaten praktisch unverändert.

Heftigen Artilleriebeschuss habe es auch am Frontabschnitt von Kupjansk gegeben. Dieser wichtige Eisenbahnknoten im Gebiet Charkiw war bei dem schnellen Vorstoß der ukrainischen Armee im September zurückerobert worden. Allerdings kommen die Ukrainer seitdem Richtung Osten kaum weiter voran. Ukrainische Angriffe seien zurückgeschlagen worden, teilte das Militär in Moskau am Freitag mit.

Im Gebiet Saporischschja beschossen nach örtlichen Behördenangaben russische Truppen nachts ein Dorf mit den eigentlich zur Flugabwehr bestimmten Raketen des Systems S-300. Es sei ein Gebäude zerstört worden, Menschen seien aber nicht verletzt worden. Moskau bestätigte die Raketenangriffe vom Donnerstag: Sie hätten ukrainischen Kommandostellen „mit der damit verbundenen Energieinfrastruktur“ gegolten. Nach ukrainischen Angaben beschießt Russland völkerrechtswidrig vor allem zivile Infrastruktur.