Ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskyy
AP/Ukrainian Presidential Press Office
Absage an Gespräche

Ukraine gegen „kurze Waffenruhe“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Idee einer „kurzen Waffenruhe“ mit Russland zurückgewiesen, das würde die Lage nur verschlimmern: „Russland möchte nun eine kurze Waffenruhe, eine Atempause, um wieder zu Kräften zu kommen.“ Eine Pause wäre eine Gelegenheit gewesen, um Gespräche für eine politische Lösung aufzunehmen.

Selenskyj erteilte die Absage während einer Rede, die beim Internationalen Sicherheitsforum im kanadischen Halifax übertragen wurde. „Ein (…) echter, dauerhafter und ehrlicher Frieden kann nur durch die vollständige Zerstörung der russischen Aggression entstehen“, so Selenskyj.

US-Generalstabschef Mark Milley hatte zuvor wiederholt gesagt, dass die derzeitigen ukrainischen Rückeroberungen möglicherweise eine Gelegenheit für die Aufnahme von Verhandlungen über eine politische Lösung des Konflikts sein könnten. Das Weiße Haus hatte aber auch betont, dass allein der ukrainische Staatschef über eine Aufnahme von Verhandlungen entscheiden könne, und damit die Vermutung zurückgewiesen, die USA würden in dieser Hinsicht Druck auf Kiew ausüben.

Kein Gesprächsangebot

Ukrainischen Angaben zufolge liegt aber bisher auch kein offizielles Angebot zu Friedensverhandlungen vor. „Wir haben keinerlei offizielles Gesuch von der russischen Seite“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Andrij Jermak am Samstag. Bevor es zu Verhandlungen kommen könne, müsste Moskau ohnehin „alle russischen Truppen von ukrainischem Gebiet abziehen“, fügte er hinzu.

Seit Beginn ihrer Gegenoffensive Ende August konnte die ukrainische Armee einige Gebiete von Russland zurückerobern, darunter die strategisch wichtige Regionalhauptstadt Cherson im Süden. Im ostukrainischen Gebiet Donezk dauerten die Kämpfe aber an. Etwa 100 russische Angriffe seien am Vortag in der Region Donezk abgewehrt worden, sagte Selenskyj in seiner nächtlichen Videobotschaft. Es gebe „weder eine Entspannung noch eine Atempause“. Die ukrainischen Truppen würden durch Grenzschutzeinheiten aus Charkiw und Sumy unterstützt. Eine Brigade der Nationalgarde kämpfe in Bachmut. „Wir werden dem Feind in keinem der Frontgebiete nachgeben“, sagte Selenskyj.

Ukraine: Millionen ohne Strom

Die russischen Luftangriffe haben die Stromversorgung für Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer unterbrochen. Zuletzt hatten die russischen Streitkräfte wiederholt die Energieinfrastruktur der Ukraine angegriffen.

Millionen ohne Strom

Russland griff zuletzt wiederholt die Energieinfrastruktur der Ukraine an. Am Freitag hieß es aus Kiew, „beinahe die Hälfte“ des ukrainischen Energiesystems sei „arbeitsunfähig“. Millionen Ukrainer waren noch immer ohne Strom. Gleichzeitig fiel in der Hauptstadt Kiew der erste Schnee. Für die kommenden Tage wurden Temperaturen von minus zehn Grad Celsius erwartet.

Laut Selenskyj hat die Wiederherstellung der Stromversorgung im Land höchste Priorität. „Wir arbeiten im ganzen Land daran, die Lage zu stabilisieren“, sagte er am Samstagabend in seiner täglichen Videoansprache. „Die meisten Probleme mit Elektrizität gibt es in Kiew und Umgebung, Odessa und Umgebung, Charkiw und Umgebung.“ Allerdings seien auch Orte wie Winnyzja, Ternopil, Tscherkassy, Tschernihiw und andere Regionen betroffen. Es werde alles getan, „um den Menschen ein normales Leben zu ermöglichen“.

Hunderte in Cherson verschwunden

Nach neun Monaten Krieg nehmen zudem die Berichte über Kriegsverbrechen auf beiden Seiten zu. Am Freitag veröffentlichte die US-Universität Yale eine Studie, wonach während der russischen Besatzung Chersons Hunderte Ukrainer festgenommen wurden und viele von ihnen verschwunden seien. Etwa ein Viertel der Menschen sei mutmaßlich gefoltert worden, vier von ihnen seien in Gefangenschaft gestorben.

In den vergangenen zwei Monaten seien in diesen Gebieten bereits über 700 Leichen entdeckt worden, sagte auch Generalstaatsanwalt Andrij Kostin am Samstagabend im Staatsfernsehen. In rund 90 Prozent der Fälle habe es sich um Zivilpersonen gehandelt. Daneben seien etwa 20 Orte entdeckt worden, an denen Zivilisten verhört und in Gefangenschaft gehalten worden seien, erklärte er weiter.

„Wir haben praktisch in fast jedem Dorf in der Region Charkiw Stellen gefunden, an denen sie friedliche Zivilisten getötet haben“, sagte Kostin. Eine ähnliche Situation fänden die Ermittler jetzt in der vor Kurzem befreiten Region Cherson in der Südukraine vor. „Und jeden Tag erhalten wir neue Informationen.“ Wie die vom US-Außenministerium unterstützte Forschungsgruppe Conflict Observatory feststellte, standen hinter den meisten Fällen das russische Militär und der russische Geheimdienst FSB.

Russland wirft Ukraine Hinrichtung von Soldaten vor

Russland warf unterdessen der Ukraine die Hinrichtung mehrerer Soldaten vor, die sich zuvor angeblich ergeben haben. Das russische Verteidigungsministerium sprach in einer Mitteilung von dem „vorsätzlichen und methodischen Mord an mehr als zehn gefesselten russischen Soldaten“, denen „in den Kopf geschossen“ worden sei. Zum Beweis verwies Moskau auf Videos, die in Onlinenetzwerken kursierten. Die ukrainische Armee kündigte am Samstag an, die Echtheit dieser Videos zu überprüfen, bevor Ermittlungen eingeleitet würden.

„Kultureinrichtungen geplündert“

Mychailo Podolyak, ein Berater von Selenskyj, wirft Russland zudem vor, ukrainische Kultureinrichtungen „vollständig zu plündern“. Laut der ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform schrieb er am Wochenende auf Twitter: „Russland nimmt alles aus unseren Museen weg. Die Museen von Cherson wurden komplett geplündert. Diebstahl, Plünderung, Zerstörung des kulturellen Erbes anderer – das ist der wahre Inhalt der modernen ‚russischen Kultur‘.“

zerstörte Kirche südlich der Stadt Isjum
IMAGO/CTK Photo
Neben der Zerstörung von Gebäuden sollen auch Kultureinrichtungen geplündert werden, sagt die Ukraine

Der ukrainische Minister für Kultur und Informationspolitik, Oleksandr Tkatschenko, hatte zuvor erklärt, russische Eindringlinge hätten die wertvollsten Exponate aus den Museen in Cherson gestohlen.

Nach Angaben von Tamila Taschewa, der Ständigen Vertreterin des ukrainischen Präsidenten auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim, hat das russische Militär rund 15.000 Museumsexponate aus den vorübergehend eroberten und nun befreiten Gebieten der Region Cherson mitgehen lassen. Die russischen Truppen waren bis Mitte November aus der Stadt im Süden des Landes abgezogen, was die Regierung in Kiew als Erfolg verbuchte.

Sunak verspricht weitere Hilfen

Der britische Premierminister Rishi Sunak traf unterdessen zu seinem ersten Besuch in Kiew seit seiner Amtsübernahme ein. Bei einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj habe Sunak der Ukraine die „dauerhafte Unterstützung“ des Vereinigten Königreichs bestätigt, hieß es aus der Downing Street. London werde Kiew unterstützen, „bis die Ukraine gewonnen hat“, sagte er.