Menschen und ein zerstörtes Auto an der Stelle des Raketenagriffs
AP/Baderkhan Ahmad
Syrien-Offensive

Türkei will mit Kurden „abrechnen“

Kurz nach dem Bombenanschlag in Istanbul spitzt sich der militärische Schlagabtausch zwischen der Türkei und Kurdenmilizen in Syrien weiter zu. Die Türkei macht die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Miliz YPG für den Anschlag verantwortlich. Sie vollzog in der Nacht auf Sonntag Luftangriffe auf deren Stützpunkte im Nordirak und in Nordsyrien. Kurdische Milizen kündigten Vergeltung an – am Montag wurde die Türkei von Syrien aus beschossen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan plant nun Bodenoffensiven.

Es stehe außer Frage, dass man sich nicht auf Lufteinsätze beschränke, „es muss entschieden werden, wie viele Kräfte sich von den Bodentruppen beteiligen müssen, und dann werden Schritte unternommen“, sagte Erdogan laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Montag. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu berichtete unterdessen von drei Toten und sechs Verletzten in der Provinz Gaziantep. Der Gouverneur von Gaziantep machte die syrische Kurdenmiliz YPG für den Beschuss verantwortlich.

Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar rief die USA auf, die Unterstützung für die syrische Kurdenmiliz YPG zu beenden. „Wir weisen alle unsere Partner, insbesondere die USA, darauf hin, dass die YPG das syrische Gegenstück zur PKK ist, und wir verlangen von ihnen ausdrücklich, dass sie jegliche Unterstützung für die Terroristen einstellen“, sagte Akar am Dienstag.

Schusswechsel in Aleppo und Kobane

Kurdische Aktivistinnen und Aktivisten und die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichteten von Schusswechseln mit kurdischen Milizen und schwerem türkischen Beschuss im ländlichen Norden der Region Aleppo und in Kobane. Die Beobachtungsstelle bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien. Von unabhängiger Seite sind diese Angaben oft kaum überprüfbar, laut ARD-Einschätzungen liefert die Stelle jedoch „brauchbare Informationen“.

Der türkische Provinzgouverneur von Karkamis in Gaziantep sagte, dass fünf Raketen auf die türkische Grenzregion abgefeuert worden seien. Dabei seien zwei Menschen getötet und sechs verletzt worden. Der Sender CNN Türk berichtete, die Raketen seien aus der Region Kobane gekommen, die von der kurdischen YPG kontrolliert wird. Die Raketen hätten eine Schule, zwei Häuser und einen Lastwagen getroffen.

„Schurken werden zur Rechenschaft gezogen“

Die türkische Regierung hatte ihre Luftangriffe zuvor in Zusammenhang mit einem Anschlag auf der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal am Sonntag vor einer Woche gebracht. Sie sieht YPG und PKK als Drahtzieher des Anschlags – beide hatten das zurückgewiesen. Die Ermittlungen in der Türkei dazu laufen noch. Es sei „Abrechnungszeit“, so das Ministerium via Twitter. „Terroristische Elemente“ sollten „neutralisiert“ und Angriffe auf die Türkei vermieden werden, hieß es weiter.

Die türkische Armee gab die Zahl der Getöteten seit Beginn der neuerlichen Offensive in Syrien und im Irak mit 184 an. Die genannte Zahl lässt sich nicht unabhängig überprüfen. Die türkische Regierung stuft die YPG und die PKK als Terrororganisationen ein.

Die Entscheidung für die nunmehr fünfte Syrien-Offensive der Türkei traf Erdogan offenbar im Flugzeug. Laut Präsidialamt unterschrieb er die Anordnung auf dem Rückweg vom G-20-Gipfel in Bali, wo er unter anderen US-Präsident Joe Biden getroffen hatte. Erdogan sagte, man habe weder mit den USA noch mit Russland im Voraus über die Offensive gesprochen, die Türkei müsse keine Erlaubnis einholen. Erdogan spricht bereits seit Mitte des Jahres von einer möglichen Militäroffensive, die von der Landesgrenze bis zu 30 Kilometer tief in das Nachbarland vordringen soll.

Russland ruft zu Gewaltverzicht auf

Russland und der Iran – beide ebenfalls Akteure im syrischen Bürgerkrieg – hatten der Türkei von einem solchen Vorgehen abgeraten. Russland rief die Türkei zuletzt auch zum Verzicht auf „exzessive Gewaltanwendung auf syrischem Staatsgebiet“ auf.

„Natürlich werden wir unsere türkischen Kollegen zu Zurückhaltung auffordern, um eine Eskalation der Spannungen nicht nur im Norden und Nordosten Syriens, sondern in ganz Syrien zu verhindern“, so der Syrien-Beauftragte Alexander Lawrentjew. „Wir verstehen und respektieren die Sorge der Türkei um ihre eigene Sicherheit“, sagte auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag vor Journalisten. Dennoch fordere Moskau „alle Parteien auf, Schritte zu unterlassen, die zu einer ernsthaften Destabilisierung der Situation führen könnten“.

Auch die USA hatte vor einer erneuten Offensive gewarnt. Russland unterstützt im syrischen Bürgerkrieg Regierungstruppen, die USA sehen in der YPG einen Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), stufen die PKK aber ebenfalls als terroristisch ein. Dass die Offensive ganz ohne dem Wissen der USA und Russland stattgefunden hat, gilt als unwahrscheinlich: Beide kontrollieren Teile des syrischen Luftraums.

Stadtansicht von Kobane
APA/AFP/Delil Souleiman
Die Stadt Kobane liegt an der syrisch-türkischen Grenze und wird überwiegend von Kurdinnen und Kurden bewohnt

Achtung des Völkerrechts gefordert

Deutschland rief die Türkei zu Zurückhaltung bei ihren Luftangriffen gegen kurdische Stellungen auf. „Wir fordern die Türkei auf, verhältnismäßig zu reagieren und dabei das Völkerrecht zu achten“, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Christofer Burger, am Montag in Berlin. Die Türkei und alle anderen Beteiligten sollten „nichts unternehmen, was die ohnehin angespannte Lage im Norden Syriens und Iraks weiter verschärfen würde“.

Zur Achtung des Völkerrechts gehöre insbesondere, dass Zivilistinnen und Zivilisten zu jeder Zeit geschützt werden müssten, sagte Burger weiter. „Die Berichte über mögliche zivile Opfer dieser türkischen Luftschläge sind extrem besorgniserregend.“ Unter Hinweis auf Artikel 51 der UNO-Charta stellte der Sprecher zudem klar: „Das Recht auf Selbstverteidigung beinhaltet nicht ein Recht auf Vergeltung.“

Zerstörter Lastkraftwagen
Reuters/North Press Agency
Das türkische Verteidigungsministerium hat nach eigenen Angaben Luftangriffe in Derik (Syrien) durchgeführt

Jahrelange Spannungen verschärfen sich weiter

Die Türkei versucht seit Jahren, an ihrer Grenze zu Syrien eine „Pufferzone“ einzurichten und die kurdischen Einheiten von dort zurückzudrängen, die sie für terroristische Angriffe verantwortlich macht. Der Konflikt zwischen türkischen Streitkräften und der PKK hat eine jahrzehntelange Geschichte und bisher Tausende Opfer gefordert – laut der Organisation International Crisis Group wurden dabei mehrheitlich PKK-Mitglieder und Verbündete getötet.

Grafik zu Siedlungsgebieten der Kurden
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Columbia University/Izady

Die neuen Ausschreitungen seien ein deutlicher Anstieg der Spannungen zwischen zwei Mächten, die sich seit Langem hassen, schreibt die „New York Times“ („NYT“). Für Konflikte sorgt auch, dass Ankara derzeit den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland blockiert und das unter anderem mit angeblicher Unterstützung der kurdischen Milizen durch beide Länder begründet.

Schwedischer Botschafter einbestellt

Am Montag bestellte das türkische Außenministerium den schwedischen Botschafter in Ankara ein. Dadurch habe die Türkei verurteilen wollen, dass „Bilder mit terroristischer Propaganda und Beleidigungen gegen unseren Präsidenten (…) auf das Gebäude unserer Botschaft in Stockholm projiziert“ worden seien, hieß es aus türkischen Diplomatenkreisen. Verantwortlich dafür seien Gruppen, die mit der PKK in Verbindung stünden.

Damit reagierte die Türkei auf ein am Montag auf Twitter veröffentlichtes Video des schwedischen Rojava-Komitees. Rojava ist die selbsterklärte halbautonome Kurden-Region im Norden Syriens. Das Komitee unterstützt die syrisch-kurdische Organisation YPG.

Tote nach Beschuss aus Syrien

In der türkischen Grenzstadt Karkamis sind durch Raketenbeschuss aus Syrien zwei Menschen getötet worden. Fünf Raketen wurden laut Behördenangaben auf das Zentrum der Stadt abgefeuert. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu trafen die Angriffe eine Schule und zwei Häuser sowie einen Lastwagen nahe dem Grenzübergang zur syrischen Stadt Dscharablus.

Vorgehen der Türkei sichert „politisches Überleben“

Sinem Adar, Wissenschaftlerin am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik, sieht in dem türkischen Vorgehen die Fortsetzung „der Kriegspolitik und Kriegsökonomie“, die der türkischen Führung ihr politisches Überleben seit 2015 gesichert habe.

Im Jahr 2015 hatte eine Reihe von Anschlägen mit vielen Toten das Land erschüttert. Mit Blick auf die Umfragen konnte die regierende AKP unter Erdogan als Ministerpräsident die Situation damals für sich nutzen. Eine kurz zuvor verlorene Mehrheit konnte sie damals wiedererringen. Dass Erdogan für den jüngsten Anschlag in Istanbul die Kurden verantwortlich mache, sei in Hinblick auf die anstehenden Wahlen eine „bekannte wie wirksame Strategie“, so auch die „Welt“.